Schmerzverzerrt und schonungslos: „Die schönste Version“

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In ihrem Debütroman „Die schönste Version“ erzählt Ruth-Maria Thomas von Jella, einer jungen Frau, die aus ihrer toxischen Beziehung ausbricht und in ihr Kinderzimmer zurückkehrt, um sich Fragen zu stellen: Danach, wie es so weit kommen konnte, dass sie ihren eigenen Freund wegen häuslicher Gewalt anzeigen muss. In Retrospektiven nimmt uns Jella mit in ihre Jugend der Nullerjahre als junge Frau zwischen idealistischen Bravo-Lovestorys und sexistischem Deutschrap. Hier, am Ort ihres Heranwachsens stellt sie sich der Erinnerung: Welcher Schmerz ist neu und welcher tief vergraben?

Der Polizist auf der Wache blickt nicht vom Computerbildschirm auf, als er Jella seine Frage stellt: „Können Sie mir Schritt für Schritt erzählen, was passiert ist?“ Jella Novak. Häusliche Gewalt. So hatte er sie aufgerufen und nun sitzt sie da, um ihren Freund – Ex-Freund – Yannick anzuzeigen, die Würgemale noch am Hals. Es braucht viele Anläufe, bis sie es aussprechen kann. Zu viel hat sie heruntergeschluckt. Zu viele Erinnerungen verdrängt, Ereignisse verharmlost. Doch wie ist es so weit gekommen? Was war vor Yannick und vor allem wer war da? Welche Männer haben sie noch hierhergebracht – und welche Sozialisation?

Du machst doch jetzt aber kein Drama?

Mit einem Schlag gerät Jellas Leben aus den Fugen. Sie kehrt zurück in ihr altes Kinderzimmer zu einem liebevollen, aber gleichermaßen wortkargen Vater. Ignoriert die Anrufe der Mutter aus Berlin und die besorgten Nachrichten in der WhatsApp-Gruppe mit ihren Studienfreundinnen. „1. Slipeinlagen kaufen + Binden kaufen, 2. Leben auf die Reihe bekommen, (3. Yannik?)“ – so lautet der zaghafte Versuch, ihr Leben mit To-Do-Listen zu sortieren. Ein Leben als Frau, dessen schmerzliche Seite sich schon so viel früher zeigte als mit der toxischen Beziehung zu Yannick. Mittels Rückblenden erzählt uns Ruth-Maria Thomas von Jellas Jugend in den Nullerjahren. Davon, wie sie mit ihrer besten Freundin Shelly das „Projekt Geilheit“ entwarf, das einzig und allein darauf abzielte, Männern zu gefallen. Wie sie Tom datete, der Mädchen mit kleinen Händen und Füßen wollte, sie nur geschminkt mochte, höchstens angeschwipst, nicht betrunken. Der verlangte, dass sie sein Sperma schluckt. Wie sie schließlich in der zehnten Klasse von ihrem Kumpel vergewaltigt wurde. Weil er ihr Nein nicht akzeptierte. „Jetzt wirklich? Ich dachte, das gehört zum Vorspiel. Hättest mal doller schubsen sollen. Er zwinkert mir zu. Du … Du machst doch jetzt aber kein Drama?“

Menschliche Rohheit und sprachliche Raffinesse

Mit ihrem Debütroman schreckt Thomas vor nichts zurück: Nicht vor der ungeschönten Wahrheit purer psychischer und physischer Gewalt, deren menschliche Rohheit sich in jedem Wort widerspiegelt („Er drückte seinen Penis tief in mich rein, zog ihn wieder raus, und noch einmal, und noch einmal, erst langsam, dann schneller. Es tat so weh, dass es mir die Tränen in die Augen trieb“). Noch fürchtet sich die Autorin mit dem Bruch literarischer Konventionen, spielt sie vielmehr mit Sprache und Form. Dass dieser Mut gesehen wird, zeigt die Nominierung des Romans auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Und tatsächlich ist Thomas literarisches Verfahren raffiniert: Durch den Verzicht auf Anführungszeichen im gesamten Roman, abbrechende Gedanken, kurze Sätze und eingerückte Bewusstseinsströme baut die Autorin eine grammatikalische Distanz ab und katapultiert uns so auf bemerkenswerte Weise direkt in Jellas Kopf. Trotz der reduzierten Interpunktion ist immer klar, wer was sagt und mit wem spricht. Ein ästhetischer Kniff, der uns organisch Teil von Jellas Innenleben werden lässt.

Weil in unserer Welt, in Yannicks und meiner, das alles nicht so schlimm war, im Gegenteil, es hat uns geeint. Unsere Welt war eine intensive.

„Die schönste Version“ erzählt von einer Frau, deren Jugend von medialen Schönheitsidealen und dem male gaze geprägt war. Die sich als junge Erwachsene in einen feingeistigen Künstler verliebt. Deren Beziehung nicht nur seine, sondern auch ihre toxischsten Seiten hervorruft. Ihre Wut, ihre Gewalt. Und damit erzählt Thomas die Geschichten einer ganzen Generation von Frauen einer patriarchalen Gesellschaft. Frauen, die mit zerflossenen Lidstrichen, zu engen Miniröcken, unterdrückten Tränen und runtergeschluckten Schmerzen zur entrücktesten Version ihrer Selbst gemacht werden.

„Die schönste Version“ | 2024 | Rowohlt Buchverlag | 272 Seiten

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