Savarkar WHO? Mithu Sanyals neuer Roman „Antichristie“

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Bereits mit ihrem Debütroman „Identitti“ bewies die Düsseldorfer Autorin Mithu Sanyal in zweierlei Hinsicht Mut: Zum einen wagte sie einen originellen Plot, zum anderen scheute sie nicht davor zurück, in die Tiefen der komplexen Debatte um Identität und Race einzutauchen. Nicht weniger komplex geht es in ihrem neuen Roman „Antichristie“ zu – im Gegenteil. In der Geschichte um die zeitreisende britisch-indische Protagonistin Durga geht es (neben vielem anderen) um den Kampf indischer Revolutionäre gegen das British Empire. Dafür setzt Sanyal die intellektuelle Bereitschaft ihrer Leser*innen voraus.

Schon der Beginn des Romans zeugt von Sanyals unverwechselbarem Humor: Die fünfzigjährige Durga steht auf der Beerdigung ihrer Mutter in Sinzig. Der Wind steht schlecht, die Asche weht den Trauernden entgegen und der Vater wischt sich seine Ex-Frau aus dem Gesicht. Noch später erinnert sich Durga an diesen skurrilen Moment: „Sie hatte irgendwo gelesen, dass Asche gesund sei, und spürte wieder den Geschmack ihrer Mutter im Mund.“ Der Tod der Mutter ist der Auftakt für Durgas spektakuläre Reise: zunächst nach London, dann in die Vergangenheit und schließlich zu sich selbst.

In London soll die Autorin für Science Fiction und Costume Dramas als Teil eines Writer's Rooms die Agatha Christie-Reihe antirassistisch überschreiben. So ambitioniert das Vorhaben so divers das Team, das mit seinen Diskussionen über die Neuverfilmung ausgerechnet am Todestag der Queen beginnt. Während protestierende Brit*innen den politisch korrekten Autor*innen die Verfälschung wichtigen Kulturguts vorwerfen („Cancelt die Canceler!“), heizen sich die Debatten im Writer’s Room auf: Sollte Agatha Christies belgischer Detektiv Poirot nicht Schwarz sein? Kann man Tee als Genussmittel aus dem Sklavenhandel seelenruhig trinken? Und was sind eigentlich die entscheidenden Unterschiede zwischen Kolonialismus und Nazi-Faschismus? Durga geht mit dem maximal sensibilisierten Blick durch die Welt und scannt diese kontinuierlich: auf Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, Ableismus – es gibt kaum einen Ismus, der in Sanyals Roman nicht vorkommt, womit die Autorin ihre machtkritische Expertise auf allen Ebenen unter Beweis stellt.

Gerade hat man sich eingelesen in diese woke Welt des Londoner Writer's Room, da kommt es auch schon zum unerwarteten und von der Autorin gleichsam unerschrocken umgesetzten Plot-Twist: Durch eine ominöse Zeitreise (deren Hintergründe nicht weiter erklärt werden, die jedoch motivisch mit den kontinuierlichen Doctor WHO-Referenzen im Roman verknüpft wird) landet Durga plötzlich im Jahr 1906. Die Zeitreise scheint sie dabei weniger zu verwirren als die plötzliche Existenz eines Penis an ihrem Körper („Ich hatte einen Penis! Dieses irgendwie bekannteste und zugleich fremdeste Körperteil meiner bisherigen Welt.“). Durga hat zwar ihre Hautfarbe, nicht aber ihr Geschlecht mit in die Vergangenheit genommen. Auf der Suche nach Zugehörigkeit in diesem fremden Körper in einer anderen Zeit führt ihr/sein Weg sie/ihn schließlich recht rasant ins India House, ein Londoner Boarding House für indische Studenten, in dem Mahatma Gandhi und Vinayak Damodar Savarkar am Esstisch über gewaltfreie versus gewaltvolle Revolution streiten. Durga gibt sich in ihrem männlichen Körper als Sanjeev aus, akzeptiert ihr Schicksal als Zeitreisende(r) größtenteils widerstandslos und wird zum Teil der revolutionären Gruppe um den Anführer Savarkar. Jener Savarkar, der ihr als „Hindu-Hitler“, als hindunationalistischer Ideologe und Begründer der Hindutva bekannt war – und der eine erstaunliche (erotische) Anziehungskraft auf Durga alias Sanjeev ausübt. Auch hier in India House besteht der Alltag, neben dem Schmuggeln von Waffen und Bauen von Bomben, aus Diskussionen – nur Zeitgeist und Perspektive haben sich geändert. Sanyal wagt den Deepdive in den Diskurs anhand historischer Persönlichkeiten und Bewohner des India House wie Madan Lal Dhingra, Lala Har Dayal, Chattopadhyaya oder Shyamj. Es geht um die Teilung Indiens, um Kasten, den Unterschied zwischen Revolution und Attentat, den Tod indischer Soldaten, den hindu-muslimischen Konflikt und schließlich auch um einen Kriminalfall: Mit einem aufkommenden Locked-Room-Mystery taucht plötzlich – wer sonst – Sherlock Holmes in India House auf.

Als Kulturwissenschaftlerin ist Sanyal die Meisterin des überbordenden Referenzsystems, das in „Antichristie“ neue Dimensionen annimmt und auf außerordentliche Recherchearbeit schließen lässt. Neben den Hauptthemen der indischen Revolution, des Postkolonialismus und Rassismus, schneidet Sanyal alles an, was nur geht, und dürfte dabei einige Leser*innen stellenweise verlieren (oder zum Googlen animieren). Dann etwa, wenn selbstverständlich Schlagworte wie „Die Utopie von Folkwang und Arts and Craft“, „reverse sexism“ oder „ockham razor“ fallen, wenn Sherlock und Savarkar über Hegel diskutieren, es obendrein noch um Verschwörungstheorien, Depressionen oder Doctor WHO geht – der sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht, weil er dringend auch mal indisch sein müsste. Man könnte wirklich genervt sein von der Dichte an Informationen und Namen. Wäre da nicht Sanyal mit ihrem unverwechselbaren Humor („Ich hatte mich schon immer gewundert, wie ein Gemüse gleichzeitig dermaßen banal und so mystisch sein konnte wie Kohlköpfe“) und ihren pointierten Entlarvungsstrategien der eigenen eurozentrischen Sicht: „Genau, das ist ja das Problem! Ihr wisst nichts über uns, deshalb wollt ihr nicht zu viele von uns in euren Geschichten haben. Und weil wir wiederum nicht in euren Geschichten vorkommen, wisst ihr nichts über uns. Ihr kennt noch nicht einmal unsere Namen.“ Es sind ebensolche Passagen, welche die Ignoranz einer europäischen Leserschaft auf den Punkt bringt und die Frage danach aufwirft, für wen Sanyal eigentlich schreibt. Ihr Roman ist definitiv voraussetzungsvoll und will es vermutlich auch sein – sowohl inhaltlich als auch formal. Man sollte also sowohl Vorkenntnisse in der Debatte als auch Spaß am Formspiel mitbringen, wenn man sich an dieses Buch wagt, das auch stilistisch experimentiert: dann etwa, wenn Kapitel mit kurzen Sequenzen aus filmischen Skripts beginnen oder die Erzählform zwischen dramatisch und prosaisch wechselt. „Antichristie“ zeigt einem die eigenen Leerstellen auf, die nicht nur individuell, sondern auch gesamtgesellschaftlich relevant sind. Das verlangt Anstrengung. Mit der Bucherscheinung zum Herbstanfang hat der Verlag ein Händchen für gutes Timing bewiesen: Schluss mit angenehmer Strandlektüre. Diesen Roman muss man sich erarbeiten.

Simone Saftig

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