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Mit „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ legt Sina Scherzant ihr literarisches Debüt vor. Die Autorin erzählt darin vom Teenagersein Anfang der 00er-Jahre, von einem jungen Mädchen, das es allen recht machen will – und ihrer Suche nach Halt.
Ich-Erzählerin Ihres Romans ist die Teenagerin Katha. Gleich zu Beginn ist sie mit einer großen Veränderung konfrontiert: Sie zieht mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester in eine neue Stadt, nach Dortmund. Was ist Katha für ein Mensch, wie würden Sie ihren Charakter beschreiben?
S.S.:
Katha bezeichnet sich selbst als „Lebenshandwerkerin“, sie ‚arbeitet‘ dafür, dass es allen anderen gut geht und verhält sich ziemlich angepasst. In vielen Coming-of-Age- Romanen geht es um rebellische Teenager*innen – Katha ist eher das Gegenteil davon. Sie versucht zum Beispiel, die Ehe ihrer Eltern zu retten und trägt eigentlich zu viel Verantwortung für eine Jugendliche in ihrem Alter. Das Buch spielt Anfang der 2000er-Jahre. Damals gab es den Begriff „People Pleaser“ noch nicht, aber er würde gut zu Katha passen.
Durch den Umzug muss Katha sich in eine völlig neue Umgebung einfinden, was ihr aber – so scheint es zunächst – recht gut gelingt. Sie findet schnell Anschluss an eine Freundinnen-Gruppe. Was war Ihnen bei der Schilderung der Freundschaften und der Dynamiken innerhalb der Clique besonders wichtig?
S.S.:
Ich würde fast sagen, dass die Gruppe für Katha ein bisschen austauschbar ist – auch wenn das erstmal komisch klingt. Sie lässt sich eher schicksalhaft in diese neue Freundschaft hineinfallen. Da geht es viel um Coolness, keine*r möchte Gefühle zeigen, jede*r spielt eine bestimmte Rolle. Außerdem habe
ich den Eindruck, dass Freundschaften in jungen Jahren viel mit dem Setting zu tun haben. Wer geht in meine Klasse, wer wohnt in meiner Straße? Oft verlieren sich solche Freundschaften dann auch wieder.
Ganz anders ist dagegen Kathas Verhältnis zu ihrer Schwester Nadine.
S.S.:
Die beiden haben einen recht großen Altersabstand, Katha ist 15, ihre kleine Schwester acht Jahre alt. Katha übernimmt auch ihr gegenüber viel Verantwortung. Sie möchte die Fehler und verpassten Gelegenheiten ihrer Eltern ausbügeln. Sie erschafft Fantasiegeschichten für ihre Schwester, reist mit ihr im „magischen Badezimmer“ in andere Welten. Auf der anderen Seite bewundert sie Nadine auch, weil die im Gegensatz zu ihr selbst sehr trotzig und rebellisch sein kann.
Sie erzählen im Roman facettenreich von Kathas Verhältnis zu ihren Bezugspersonen. Besonders prägend ist auch Angelica, genannt Lica, die Mutter einer ihrer Freundinnen. Warum wird Lica für sie so eine wichtige Anlaufstelle?
S.S.:
Katha hat lange das Gefühl, dass sie nicht gesehen wird – und Lica fängt genau das auf. Ich wollte Lica trotzdem nicht als die „Cool Mom“ schreiben, die vermeintlich alles besser macht als andere Mütter. Viel mehr eröffnet sich zwischen Katha und Lica eine besondere Verbindung. Schon bei der ersten Begegnung sagt sie zu Katha, dass sie sich wie zuhause fühlen kann – und im Zweifel sogar noch besser als dort. Eine erwachsene Person interessiert sich für sie und stellt ihr Fragen – Katha kennt so etwas gar nicht. Das ist ein regelrechter Schock für sie.
Ohne spoilern zu wollen: Katha muss sich im Laufe des Romans auch mit Trauer und Verlust auseinandersetzen. Was war Ihnen bei der Verarbeitung dieser Themen besonders wichtig?
S.S.:
Trauer ist eines der größten Gefühle, das man haben kann. In so einer Lage fühlt es sich oft an, als ob jemand ein Loch in einen hineingestanzt hätte. Und trotzdem gehen die Menschen sehr unterschiedlich mit diesem Zustand um. Katha wird von ihrer Verlusterfahrung enorm getriggert. Sie fällt in ihre Kümmerer-Rolle zurück und fühlt sich missverstanden. Sie sitzt in einem dunklen Loch – und hadert mit den eigenen Emotionen.
In Ihrem Roman begegnen wir Coolpix-Kameras, Big Brother und Diddlmäusen. Sie selbst sind 1991 geboren, waren also auch Teenager Anfang der 00er-Jahre. Inwiefern sind eigene Erinnerungen mit in die Geschichte eingeflossen?
S.S.:
Das war im ersten Moment eine ganz nette Zeitreise. Ich habe zum Beispiel überlegt, welche Süßigkeiten es damals am Kiosk gab. In meinem Heimatort hieß das dann Schnuckeltüte. Bei der Recherche zum Buch habe ich auch die alten Songs von Zlatko oder Deutschland sucht den Superstar gehört. Gleichzeitig habe ich mich aber auch an TV-Sendungen wie Germany’s Next Topmodel erinnert. Oder an Frauenzeitschriften, in denen die Körper von Promi-Frauen mit der Lupe analysiert wurden. Das hat einen als Teenager*in enorm verunsichert. Man stand in der Umkleidekabine und hoffte, dass niemand die eigene Unterwäsche kommentieren würde. Und mit fünfzehn hat man sich beim Besuch im Freibad Sorgen über Cellulite oder Körperbehaarung gemacht.
In so einer Lage fühlt es sich oft an, als ob jemand ein Loch in einen hineingestanzt hätte.
Katha und ihre Freundinnen begegnen einigen Jungs und Männern, es gibt erste Flirts und Beziehungen, aber auch schwierige Erfahrungen. Was erzählt uns der Roman über diese Themen in einer Zeit vor #metoo?
S.S.:
Mir war es wichtig, das Thema „erste Liebe“ einmal anders zu erzählen und auch die unschönen Seiten zu zeigen. Denn ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass in dieser Zeit auch viel Übergriffiges passiert ist – vielleicht nicht immer mit böser Absicht, weil beide Seiten jung und unerfahren waren. Da ist ein großer Druck auf jungen Menschen erste intime Erfahrungen in einer bestimmten Altersspanne zu erleben, was dazu führt, dass sie sich in überforderten Situationen wiederfinden, genau wie Katha im Buch. Gesellschaftlich wird sowas mitgetragen durch Sätze wie „Boys will be boys“ und „Mädchen sind doch viel reifer als Jungs“.
Welche Rolle spielt speziell Dortmund als Handlungsort für die Geschichte?
S.S.:
Dortmund-Hombruch ist ziemlich grau und trist. Angelicas bunte Wohnung als Ankerpunkt für die Mädchenclique sticht da umso mehr hervor. Außerdem war mir der Vibe der Stand besonders nah, weil ich in der Nähe von Dortmund geboren bin. Den hätte ich für ein Dorf in Bayern sicher nicht so gut einfangen können, auch wenn es da Themen wie Trennung, Freundschaft oder Verlust natürlich genauso gibt.
Sie haben bereits eine Reihe von Büchern veröffentlicht. „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ ist ihr literarisches Debüt. Inwiefern hat sich der Schreibprozess von Buch zu Buch unterschieden?
S.S.:
Es war auf jeden Fall anders, weil ich emotional mehr aus mir selbst herausholen musste. Einige Gefühle und Situationen, die Katha durchlebt, sind mir vertraut. Das Schreiben an einer emotional herausfordernden Geschichte funktioniert bei mir nicht wie ein 9-to-5-Job.
Kommen wir zum Schluss noch auf den ungewöhnlichen Titel Ihres Romans zu sprechen, der ja selbst auch Teil der Geschichte ist. Was hat es damit auf sich?
S.S.:
Ich habe lange einen Titel gesucht und bin irgendwann bei der nordischen Mythologie gelandet. Da gibt es zwei Wölfe – einer verschlingt den Mond, der andere die Sonne. Ich fand eine Anspielung darauf sehr passend. Katha erlebt im Buch einen Tag, der sich für sie genauso anfühlt. Für sie ist eh schon
Weltuntergang – und dann verschwindet auch noch die Sonne.
Sina Scherzant
1991 geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, ist SPIEGEL-Bestsellerautorin, Podcasterin und Drehbuchautorin. „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ ist ihr literarisches Debüt.