
Miko ist der jüngste von drei Brüdern, die im ehemaligen Jugoslawien aufwuchsen und mit ihren Eltern nach Deutschland kamen. Im Ruhrgebiet soll es eine bessere Zukunft für die Kinder geben, doch der Plan der Eltern geht nur bedingt auf. Jahre später erzählt Mikos Frau dessen Geschichte und die ihrer Familien, als Miko von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwunden ist. Seine Frau erzählt für Maja, ihre gemeinsame Tochter, damit sie einmal weiß, wer ihr Vater ist und was ihn ausmacht.
Erwartungen und Pläne anderer für das eigene Leben sind ein zentrales Thema in diesem Roman. Die Frustration darüber und deren Überwindung schildert Habich-Milović vielfältig und nachvollziehbar. Manche Kapitel sind lediglich stroboskopartige Schlaglichter, Zusammenhänge könnten teils schärfer konturiert sein. Dennoch wirft die Autorin die großen Fragen überzeugend im Kleinen auf: Ist in einer Partnerschaft eine ähnlich bedingungslose Liebe möglich wie in Elternschaft? Warum stecken Eltern ihre Kinder ewig in die gleichen alten Schubladen?
Seine Kindheit habe Miko stets als Abfolge von Abenteuern erzählt, habe beschlossen, sie so zu erinnern, und diesen Abschnitt dann schnell wieder ins Regal der Erinnerungen sortiert. Die heranwachsenden Brüder Dragan, Silan und Miko manövrieren sich ständig in Schwierigkeiten, nach dem Umzug gehen sie zunächst im Bochumer Nachtleben auf. Dragan, von seinen Eltern stets als klug gelobt, wird in der fremden Umgebung zum verhinderten Intellektuellen. In der Heimat hätte es Kontakte und Chancen für ihn gegeben, in Deutschland wird er mangels Alternativen Gastronom. Silan, der mittlere Bruder, arbeitet sich sein Leben lang daran ab, dass er nicht der kluge Älteste und zugleich nicht das Nesthäkchen ist. Er findet seinen Platz erst nach dem Tod des Vaters. Auch Mikos Leistungen werden angesichts der vorübergehenden Erfolge von Dragans Restaurants übersehen. Der jüngste Bruder wird in eine Rolle und einen Beruf gezwängt, der ihm nicht liegt. Er befinde sich im falschen Film, während die Eltern zufrieden mit Popcorn zuschauen, heißt es an einer Stelle.

Habich-Milović, die bislang Theaterstücke geschrieben hat, bedient sich vieler solcher szenischen Eindrücke. Einfühlsam umschreibt sie so, was die Figuren einander nicht sagen können, und macht ihre Erzählerin mitunter zur Regisseurin möglicher Familienszenen. Lebhaft denkt diese über harmonischere Formen des Zusammenlebens nach, denn übergriffiges Verhalten von Familienmitgliedern zieht sich durch den Roman. Kulturelle Unterschiede angefangen bei Haarschnitten und Kleidungsstilen und das nicht zuletzt damit verbundene kritische Beäugen durch Schwiegerverwandte sorgen immer wieder für selbstironische Kommentare. Zugleich ist die Erzählerin sich bewusst, dass ihr Kind in Deutschland aufwächst, wo der Krieg in Ex-Jugoslawien lediglich mal ein Nachrichtenthema war, während die Tochter eine halbe „Jugo“ ist. Trotz eigener Ängste bringt ihre Mutter ihr diesen Kulturraum voller Wärme mit ihrer Erzählung näher. Verletzungen, die die Familienmitglieder einander zufügen, den Rückzug in die Partnerschaft, das Ausbrechen aus Normen, die Unterstützung füreinander trotz allem, was war – Habich-Milović verpackt all das in eine charmante Erzählung, die mit viel Balkan-Esprit und Disco-Licht aus Bochum aufwartet.
Ines Habich-Milović: „Dein Vater hat die Taschen voller Kirschen“, Rowohlt Berlin, 304 Seiten, 24 Euro