
Anni lebt mit ihrer kleinen Tochter bei den Eltern in Dresden, ihr Zwillingsbruder Tristan ist als Luftwaffenpilot im Einsatz. Als die Briefe ausbleiben, weiß Anni nicht, dass Tristan abgestürzt und in britischer Gefangenschaft ist. Bei der Bombardierung Dresdens wird ihr Elternhaus zerstört. Anni flieht mit ihrer Tochter und dem halbjüdischen Geiger Adam aus der Stadt, für dessen Schutz ihr Vater sein Leben gab. Adam sieht sich in seiner Schuld, während Anni rätselt, wer ihren Vater verriet. Tristan wiederum erlebt in Kriegsgefangenschaft, wie die britische Bevölkerung ihn als deutschen Soldaten verurteilt. Er hatte sich aus Bewunderung für den älteren Bruder beim Militär gemeldet und beginnt hier, seine eigene Rolle zu hinterfragen. Unterstützt wird er von der Krankenschwester Rosalie, die Verständnis für seine Lage hat.
Vordergründig steuert der Roman geradewegs auf zwei Liebesgeschichten zwischen Anni und Adam sowie Tristan und Rosalie zu. Doch immer wieder bearbeitet die Autorin auf einer weiteren Ebene das Thema Schuld: „Ein komplexes und lebenslang faszinierendes Gefühl“ für sie, wie sie bei einem Treffen anlässlich der Romanveröffentlichung sagt. Darüber fand sie auch Zugang zur Figur Tristan, das sei ihr ansonsten eher schwergefallen. Der Roman erscheint 80 Jahre nach Kriegsende, Schuldfragen sind aus Höflichs Sicht aber nach wie vor aktuell.
Die dunklen Kapitel sollen sich nicht wiederholen. Unterschiedliche Haltungen innerhalb einer Familie und daraus resultierende Konflikte beschäftigen sie ebenfalls stark, was sie anhand mehrerer Konstellationen im Roman überzeugend durchspielt: Rosalies Eltern sind mit ihrer Verbindung zu Tristan alles andere als einverstanden, Annis Schwiegereltern heißen ihre Beziehung zu Adam nicht gut. Diese Ablehnungen verortet Höflich im Kontext der Kriegsfolgen auch in der weiteren Bevölkerung und hebt die innerfamiliären Konflikte so gleichsam auf eine gesellschaftliche Ebene.
Die Dialoge rund um Tristans Gefangenschaft schrieb Höflich zunächst auf Englisch. „Ich fand das authentischer“, erklärt sie. „Zumindest dort, wo Tristan sprachlich noch extrem wenig versteht.“ Während sie in den USA studierte und ihr der Sprachwechsel leicht von der Hand ging, priorisierte der Verlag die Zugänglichkeit für ein deutschsprachiges Publikum vor einem Fremdheitsgefühl. Übrig blieben nur ein paar englische Sätze. Kein Problem für die Autorin, die gern Einblick in ihre Arbeit und Quellen gibt. Der Briefwechsel ihrer Großeltern ist die Vorlage für die Briefe zwischen Anni und Tristan. Zwei Jahre lang wussten ihre Großeltern nicht, ob die bzw. der andere den Krieg überlebt hatte. Nach dem ersten Brief dauerte es noch drei Jahre bis zum Wiedersehen. Diese Briefe drohen heute zu zerfallen, Höflich trägt sie aber abfotografiert auf dem Handy stets bei sich. Ihr Mann spielt Geige und war ihre „Fachberatung“ für die große Rolle, die Annis Instrument und Adams Geigenspiel im Roman einnehmen.
Zudem wandert Höflich gern und ging selbst einen Weg, den ihre Figuren über die Alpen einschlagen. Bei der weiteren Recherche stieß sie auf interessante historische Figuren, deren Biografien noch ungeschrieben sind. „Biografien liegen mir aber nicht“, sagt sie. In ihrem Roman fließen dafür umso stimmiger Inspiration, Recherche, Ortskunde und Fantasie zusammen.
Sarah Höflich: „Maikäferjahre“, dtv, 464 Seiten, 23 Euro