Wenn Roberto Ciulli von den Clowns erzählt, dem Weißclown und Rotclown, dem Herrn und seinem Knecht, hat man seine ganze Philosophie und sein Programm: Intellekt und Emotion, Geist und Trieb. Damit ist die ganze Welt erfasst – und das ganze Theater, nicht allein das der Commedia dell’Arte, die dem 1934 in Mailand geborenen Ciulli naturgemäß besonders am Herzen liegt.
Ciulli promovierte über Hegel, spielte Zelttheater, ging 1965 nach Deutschland, schuftete als Gastarbeiter, wurde Regisseur am Theater Göttingen und dort für Köln entdeckt, wo er zusammen mit Hansgünther Heyme von 1972 bis 1979 Schauspieldirektor war. Der Kollektivgedanke, der damals in der Luft lag, ließ ihn nicht mehr los. Ein anderes System, weg von den festen und starren Strukturen des Stadttheaters, hin zu mobilen und ambulanten Formen. So gründete er seine eigene Schaubühne, im Team mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer und dem inzwischen verstorbenen Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben.
Seit 1981 existiert das Mülheimer Theater an der Ruhr als unkonventionelles, Kontinuität und Autonomie behauptendes Modell, das zunächst in der Stadthalle spielte, bis die Truppe endlich am Raffelberg im ehemaligen Badehaus ihr schönes Domizil fand. Ein Theater, dass nicht vorrangig literarisches Theater ist, sondern andere Ausdrucksformen gleichberechtigt und das Ensemble im Zentrum behauptet. Der Wanderzirkus des Theaters an der Ruhr mit fester Adresse ist ein Erfolgsmodell. Nicht nur in Nordrhein-Westfalen, das Ciulli 2013 seinen Staatspreis verlieh. Wie zuvor Pina Bausch, die ebenfalls in Wuppertal blieb und in der ganzen Welt daheim war.
Ciulli und die Seinen haben das Kunststück geschafft, Intellektualität, Theatertheorie und politische Aufklärung aus dem Geist von 68 mit Volkstümlichkeit und elementarer Bilderlust zu paaren. Zugleich Zauberer und Entzauberer zu sein, Visionäre und Pessimisten. Einer der Lehrmeister war der Landsmann Giorgio Strehler. Bevor der Begriff zur Leitformel wurde und zur konkreten Praxis, verstand das Theater an der Ruhr sich als multikulturell. Man ging eine Liaison mit dem Sinti-Theater Pralipe ein, arbeitete mit dem türkischen Nationaltheater Ankara zusammen, lud die Welt an die Ruhr und ging auf Tour. Große Nähe verband Ciulli mit der jugoslawischen Ausnahme-Schauspielerin Gordana Kosanovic, die 1986 früh verstarb. Ciulli und Company waren Entdecker verschlossener Theaterkontinente. Sie gastierten in Belgrad, im Iran, passierten die Seidenstraße bis nach Hinter-Asien, bereisten Südamerika. Mehr als 40 Länder stehen auf der Liste.
Unmöglich, alle, im Dialog mit dem Ensemble und dessen Autorschaft entstandenen, Prozesscharakter tragenden Inszenierungen Ciullis aufzuzählen: grandiose wie „Der Zyklop“, „Alkestis“ und „Elektra“ nach Euripides; Aufführungen von Shakespeare, Goldoni, Pirandello, Lorca, Tschechow, Büchner, Brecht und Beckett, Gorki, Sartre und Peter Weiss. Das Theater an der Ruhr ist – zuerst und zuletzt – die künstlerische Handschrift des Roberto Ciulli. Er hat seinen Stil, seine Methode, auch Manierismen, auch anarchische Impulse. Aber er bricht immer auch wieder aus: Plötzlich brachte er einen Feydeau, anders, als man ihn kennt – statt Tempo Entschleunigung, statt Türen-Klappen die Melancholie des Stillstands. Plötzlich überrascht einen das Spontane, Offene, Gefährdete, Riskante – und er selbst, zunehmend oft als Schauspieler in seiner eigenen Manege, unbedingt gern als Clown.