Man traute seinen Augen kaum: Die „singende Herrentorte“ in der Reichskanzlei! Und dann auch noch im senfgelbbraunen Trainingsanzug! Als er 2007 in Dani Levys Film-Farce „Mein Führer“ ebenjenen verkörpert, löst Helge Schneider das aus, was er immer auslöst: Irritation. Kann er das? Er, der Anarchist, der Blödler, der große Improvisator? Er kann.
Im Gegensatz zu anderen Schauspielern sieht Helge Schneider seine Rolle als Adolf Hitler aber nur als eine Facette seiner Arbeit. Das Denken in Schubladen passt nicht zu jemandem wie Helge Schneider. Dieser Mann ist Jazz. Oder besser: Free Jazz. In allem, was er tut. Schneider, der 1955 in Mülheim an der Ruhr geboren wird, und sich bereits im Kindesalter mit Instrumenten wie Klavier und Cello beschäftigt, ist Jazzmusiker, Kabarettist, Komiker, Schauspieler, Autor, Filmemacher – kurz: ein Gesamtkunstwerk. Abitur hat er für diese Karriere nicht gebraucht, zwei Semester Konzertpiano am Duisburger Folkwang-Konservatorium stehen in seiner Biografie.
Sein Leben wirkt wie ein großes „Mal gucken.“ In den 70er Jahren steht Schneider gern im örtlichen Eduscho-Stehcafé, belauscht die „Oppas“ am Nebentisch, die ihre knorrige Alltagsphilosophie zum Besten geben und sammelt unbewusst Material für seine späteren Bühnenauftritte. In den 80er Jahren wendet er sich konsequent dem Jazz zu, spielt mit Albert Mangelsdorff und komponiert Filmmusik für den Regisseur Werner Nekes.
Nekes besetzt ihn dann auch für die Hauptrolle des Schlagerbarden „Jürgen Potzkothen“ in „Johnny Flash“ (1986). Schneider übernimmt in der Komödie zudem die Rolle eines gewissen „Christoph Schlingensief“, ein chaotischer Schlagersänger mit Death-Metal-Neigung. Außerdem steht er in jenen Jahren für den echten Schlingensief für dessen Filme „Menue Total“ und „Mutters Maske“ vor der Kamera. Zusammen mit Nekes sind sie, wie es Schneider ausdrücken würde, „die drei lustigen Zwei“ der damaligen Mülheimer Underground-Kunstszene.
Ab Beginn der 1990er wird Helge Schneider unter seinem Künstlernamen „Die singende Herrentorte“ einem breiteren Publikum bekannt. Das ist dem damaligen Comedy-Boom ebenso geschuldet wie Schneiders infantilem Nr.1-Hit „Katzeklo“. Mit dem schlichten Liedchen irrlichtert er durch Sendungen wie „RTL Samstag Nacht“ oder „Schmidteinander“; verstört und begeistert sein Publikum gleichermaßen. Nach einem Auftritt bei „Wetten, dass…?“ kennt ihn halb Deutschland, und viele der neuen Fans stürmen die Kinos für Schneiders Western-Interpretation „Texas“. Gedreht in den Kulissen der Karl-May-Festspiele im sauerländischen Elspe, erzählt dieser gefilmte Kindergeburtstag die Abenteuer von Doc Snyder (Schneider), der im blauen Polyesteranzug und Sombrero durch die Westernklischees reitet und abends am Lagerfeuer seinem Gaul aus dem Pferde-Mädchenheft „Wendy“ vorliest.
Weitere Filme wie „00 Schneider“ oder „Jazzclub – Der frühe Vogel fängt den Wurm“ folgen, aber Schneider zieht es immer wieder zurück auf die Bühne. Bisweilen ist er genervt vom eigenen Erfolg. Dem Comedy-Publikum, das auf seinen Konzerten zum x-ten Mal lautstark das „Katzeklo“ einfordert, begegnet er spielerisch-abwehrend. Entweder erzählt er etwas völlig anderes oder spielt 90 Minuten lang konsequent Jazz. Trotzdem sind die Häuser voll.
Die Bühne ist und bleibt Helge Schneiders Lebens- und Arbeitsmittelpunkt; dort kann er machen, was er will. Bei Bedarf streckt er alberne Liedchen von 3 auf 20 Minuten, kommt beim Erzählen und Spielen immer wieder vom Weg ab, verliert sich in einem Piano-Solo oder kichert über sich selbst. Ein außergewöhnlicher Künstler - wie auch die Jury des Kunstpreises NRW 2023 befand.
Sein Hang zum sprachlichen Dadaismus schlägt sich in den Titeln seiner Lieder, Alben und Tourneen nieder: „Bonbon aus Wurst“, „Eiersalat in Rock“, „Wullewupp Kartoffelsupp“, „Ich habe mich vertan!“ Letzteres ist Programm, aber nicht schlimm. Vertan heißt bei Helge Schneider meist der Beginn von etwas Neuem. Sei es innerhalb eines Liedes oder innerhalb eines Lebens. Er probiert halt gern Unbekanntes aus. Schreibt auf einmal autobiografische Bücher wie „Guten Tach!“, inszeniert „Mendy – das Wusical“ am Bochumer Schauspielhaus oder sitzt als angeblicher Wehrmachtssoldat im Interview bei Alexander Kluges nächtlichem TV-Kulturexperiment „dctp“. Wie gesagt – der Mann ist Freejazz. Dixieland, das sind die Anderen.