Man musste ihn erleben: seinen Enthusiasmus, seine Empathie, die Eloquenz, weit gefasste Bildung und zuvorkommende Haltung. Die Beschreibung, mit der Gerard Mortier zum Jubiläum im Oktober 2013 Giuseppe Verdi charakterisierte, traf auch auf ihn selbst zu. Verdi ist neben Mozart und Olivier Messiaen sein bevorzugter Komponist – und Mensch gewesen.
Ohne diesen Impresario, Kunst-Ermöglicher und Vordenker würde es die Ruhrtriennale so nicht geben. Nach zehn Jahren Salzburg stand Mortier klar vor Augen, dass es ein Anti-Repräsentations-Festival sein müsse, zumal im ehemaligen Revier, das dem Flamen auch von der Mentalität nahe lag. Der Schatten der Krupp-Villa-Hügel fiel schon auf das erste Festival-Jahr seiner Intendanz, als er Johan Simons und dessen Hollandia-Truppe mit Viscontis „Fall der Götter“ einlud. Mortiers Einsatz für die Künste ist ohne das Politische nicht zu denken. Aber es hatte sich ästhetisch zu legitimieren. Explosivstoff, ja, Propaganda, nein, das war seine Sache nicht.
Mortier hat, seit er das Théâtre de la Monnaie in Brüssel zu einer ersten Adresse machte, das Aufrührerische, Widerständige in der Kunst gesucht und herausgefordert. So dezent und vornehm er wirkte, im konservativ blauen Anzug des französischen Maître, mit dem akkurat gescheitelten Haar, der Bäckersohn aus Gent, Jesuiten-Zögling und promovierte Jurist war kein bürgerlich bequemer Geist.
Er war Citoyen. Mortier, als Intendant in Salzburg, Paris und Madrid als den ersten Adressen nationaler Kultur, hat nie in Kategorien von Prestige und Staatskunst gedacht, sondern sie für seine Ideen genutzt. Die Programmatik des Théâtre Nanterre-Amandiers, der Stein-Schaubühne und von Ariane Mnouchkine befruchteten seine Intendanzen seit dem Laboratorium der Monnaie-Oper in Brüssel, die er 38-jährig übernahm. Patrice Chéreau und Klaus-Michael Grüber standen ihm in ihrem Querdenken nahe. Peter Sellars und Alain Platel führten bei ihm Stoffe und Stücke in die Sperrbezirke des Sozialen, in Michael Hanekes „Don Giovanni“ brannte das Fegefeuer der Eitelkeiten in einem Konzern-Tower. Mortier, der Idealist und Utopist, der ästhetische Revolutionär, wagte immer den passo estremo, wie es im „Don Giovanni“ heißt.
Für die Ruhrtriennale entwickelte er die so genannten Kreationen als Genre übergreifendes Konzept. Und er zog dem Festival die Linie der Transzendenz ein – der blaue Himmel über dem Revier war in dem Sinne nicht allein eine meteorologische und ökologische Sache, sondern auch eine geistige. Also nicht Wagner, sondern Olivier Messiaen oder das Blau des Bill Viola und die frohe Botschaft des „Saint Francois d’Assise“ unter der Farbkuppel des Künstlers Ilya Kabakow in der Jahrhunderthalle. Keine Angst vor Engeln, vor einer spirituellen Invasion und der Wiederentdeckung des Himmels. Kabakov nannte Mortier den „geistigen Nachfolger von Sergei Diaghilev“.
Seine Grund-Idee meinte, das Materielle und Klassenkämpferische, das in den Industriedenkmalen selbst eingelagert war, zu überwinden. Jedoch das Prometheische anerkannte er: als Prinzip, das Feuer der Aufklärung zu entzünden. Auch gegen eine Romantisierung der Industrie-Epoche zu kulturellem Zweck wehrte er sich: Er nahm die Hallen als lieus de mémoire, wie er sagte.
Unermüdlich, beweglich und hoch motiviert, war Mortier sich nicht zu fein, um die Ruhrtriennale in kleinen Veranstaltungen des kleinteiligen Ruhrgebiets zu bewerben und inspirierend sein Projekt vorzutragen. Streit ging er nicht aus dem Weg, er pflegte Feindschaften, er wuchs an ihnen, es mobilisierte seine Widerstände. Nichts hasste er mehr als bourgeoise Borniertheit, den Missbrauch von Kunst für den Event und die Verkommenheit der ökonomischen und politischen Klasse. In seiner formvollendeten Liebenswürdigkeit lag Ironie, sein Charme konnte Biss haben.
Gerard Mortier ist 70-jährig am 9. März 2014 in Brüssel gestorben. Sein Einsatz für die Künste und eine „Dramaturgie einer Leidenschaft“, wie sein in seinem Todesjahr erschienenes Buch heißt, werden in Europa in die Zukunft wirken.