Buchtipps für den Sommer

LiteraturBuchtipps
Von der Großwildjagd in Afrika bis zum Gutshof in Westfalen – unsere Buchtipps für den Frühling.
1. Düsteres Idyll: „Krummes Holz“ von Julja Linhoff
Lange ist es her, dass Jirka den Gutshof seiner Eltern im „Krummen Holz“ in Westfalen besucht hat. Zu viel ist geschehen, zu viel Schmerz und Angst stehen ihm im Weg. Als er sich an einem drückend heißen Sommertag doch auf den Weg macht, beginnt für ihn eine Konfrontation mit seiner Vergangenheit. Jirkas Rückkehr an den Ort seiner Kindheit und Jugend bildet den Auftakt von Julja Linhofs beeindruckendem Debütroman. Viel hat sich verändert, seit er das letzte Mal da war: Sein Vater lässt sich nicht blicken, seine Großmutter gleitet in die Demenz ab, seine Schwester ist abweisend, der Hof heruntergewirtschaftet. Nur Leander, der Sohn des Verwalters, spricht mit ihm. Doch auch mit ihm verbindet Jirka Erinnerungen, die ihn bis heute beschäftigen. Julja Linhoffs sinnliche, dichte Sprache bringt die Geschichte zum Flirren. Man riecht regelrecht die Sommerhitze und den Geruch der Felder. Obwohl Vieles im Ungefähren bleibt und nur angedeutet wird, folgt man der soghaften Geschichte gerne bis zur letzten Seite.

„Krummes Holz“ von Julja Linhoff ist bei Klett Cotta erschienen.
272 Seiten
ISBN: 978-3-608-96609-1

2. Keine Lust auf Standard: „Das Gras auf unserer Seite“ von Stefanie de Velasco
Drei Frauen Mitte 40, drei Lebensmodelle: In Stefanie de Velascos neuem Roman „Das Gras auf unserer Seite“ begleiten wir die Protagonistinnen Kessie, Grit und Charly bei ihrem ganz normalen Alltag in Berlin-Schöneberg. Der hat allerdings nur wenig mit dem gängigen Standard „Job, Ehe, Haus, Kind(er)“ zu tun. Grit zum Beispiel möchte lieber alleine im Strebergarten wohnen als mit ihrem Freund Anno nach einer neuen Wohnung zu suchen. Kessie muss sich um ihre erkrankte Mutter kümmern und trifft dabei unverhofft ihre Jugendliebe Nazim wieder. Und Charly hat eigentlich eh schon genug Probleme mit ihrem Hund Bubba und ihrer schwächelnden Schauspielkarriere – als sie plötzlich vor eine große Entscheidung gestellt wird. Geschickt und mit einer guten Portion Humor bricht die Autorin mit verbreiteten Klischees. Sie zeigt realistische Frauenfiguren beim „Klarkommen“ mit all den Herausforderungen, die das Leben so mit sich bringen kann. Vor allem aber erzählt sie von der Kraft der Freundinnenschaft, vom füreinander da sein in wilden Zeiten. Und davon, dass Familie manchmal ganz anders aussehen kann als Mutter, Vater, Kind.

„Das Gras auf unserer Seite“ ist bei Kiepenheuer und Witsch erschienen.
256 Seiten
ISBN: 978-3-462-00573-8

3. War es die Haushälterin?: „Mein Name ist Estela“ von Alia Trabucco Zerán
Ein Kind ist tot – so viel ist gleich zu Beginn von Alia Trabucco Zerán Roman klar. Aber was genau ist passiert? In „Mein Name ist Estela“ begibt sich die chilenische Autorin auf eine Spurensuche. Erzählerin der Geschichte ist Estela. Sie ist Mitte 40 und lebt als Haushälterin bei einer reichen Familie in Santiago. Während Estela kocht, die Wäsche macht, den Boden schrubbt, feiert das Ehepaar Dinnerpartys oder treibt seine Karrieren voran. Estela kümmert sich auch um das heranwachsende Kind der Familie. Immer wieder gibt es Momente der Nähe und Solidarität zwischen den Beiden – bis es zu einem Unglück kommt. Alia Trabucco Zerán gelingt es, mit knappen Worten eine äußerst fesselnde Geschichte über Klassismus zu erzählen. Der Roman spielt zwar in Chile, ist in seiner Eindringlichkeit aber universell. Estela gehört nie richtig dazu, die Familie bewahrt immer Distanz zu ihr. Sie darf zwar beim Weihnachtsessen dabei sein, um den Abwasch muss sie sich anschließend aber trotzdem alleine kümmern.

„Mein Name ist Estela“ ist bei Hanser Berlin erschienen.
240 Seiten, übersetzt aus dem Spanischen von Benjamin Loy
ISBN 978-3-446-27727-4

4. Die Bitterkeit des Lebens: „Zitronen“ von Valerie Fritsch
2020 stand Valerie Fritsch mit ihrem Roman „Herzklappen von Johnson und Johnson“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Das Buch handelte von einem Kind, das keine Schmerzen empfinden kann. Auch in ihrem neuen Roman „Zitronen“ setzt sie sich mit der Welt des Schmerzes auseinander: Wir begleiten den Jungen August Drach beim Erwachsenwerden in einem kleinen Dorf – und erleben, wie ihn die Schmerzen seiner Kindheit für immer prägen. Da ist der Vater, der ihn schlägt und misshandelt. Und da ist die Mutter, die sich zunächst liebevoll um ihn kümmert. Aber ihre Zuneigung wandelt sich: Als der Vater die Familie verlässt, mischt sie August heimlich Medikamente ins Essen und macht ihn krank. Jahre später schafft August es, sich von der Mutter zu befreien. Er führt ein eigenes Leben, begegnet seiner ersten großen Liebe. Bis er eines Tages den Entschluss fasst, in sein Heimatdorf zurückzukehren und seine Mutter zu besuchen... Zugegeben, „Zitronen“ ist kein fröhliches Frühlingsbuch. Aber Valerie Fritsch versteht es, die komplexen Fragen um Themen wie Abhängigkeit, Schuld und Liebe in ihrer dichten, poetischen Sprache einzufangen. Man liest dieses Buch mit angehaltenem Atem und taucht ein in eine unfassbar traurige Lebensgeschichte.

„Zitronen“ von Valerie Fritsch ist bei Suhrkamp erschienen.
186 Seiten
ISBN: 978-3-518-43172-6

5. Großwildjagd in Afrika: „Trophäe“ von Gaea Schoeters
Hunter mag den Nervenkitzel. Seit vielen Jahren reist er regelmäßig nach Afrika, zahlt viel Geld, um die so genannten „Big Five“ jagen zu können: Elefant, Büffel, Löwe, Leopard und Nashorn. Die ersten vier hat er schon geschossen – jetzt fehlt nur noch das Nashorn. In Gaea Schoeters' Roman begleiten wir Hunter durch die Wildnis, auf der Suche nach „seiner“ Trophäe. Wir treffen Einheimische und Wilderer, streifen durch Wälder und Graslandschaften, begegnen Giraffen und Skorpionen. Als sein Freund van Heeren ihn eines Tages fragt, ob er schon mal von den „Big Six“ gehört habe, wird Hunters Gier auf ganz neue Weise entfacht.... Was auf den ersten Blick klingt wie eine klassische, vielleicht etwas angestaubte Abenteuergeschichte, entpuppt sich schnell als packende Erzählung über moralische Fragen und unseren und (westlichen) Blick auf Afrika. Themen wie Kolonialismus und Tierschutz werden ebenso verhandelt wie die Überheblichkeit des Menschen gegenüber der Natur. Gaea Schoeters Schreibstil ist dicht und lebendig. Als Leser*innen sind wir unbehaglich nah dran an Hunter und allem, was er erlebt.

„Trophäe“ von Gaea Schoeters ist bei Zsolnay erschienen.
256 Seiten, übersetzt von Lisa Mensing aus dem Niederländischen
ISBN: 978-3-552-07388-3

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