Film

„Maestro“: Bradley Coopers Biopic über den legendären Dirigenten Leonard Bernstein

Die Kamera nähert sich dem Mann am Flügel sehr bedächtig seitlich von hinten. Wir sehen den etwas zerzausten weißhaarigen Kopf, die Brille auf der Nase, ein wenig vom Profil. Drei Kamera- und Tontechniker stehen ihm gegenüber, die ihn aufnehmen, dann beginnt er zu sprechen, und wir blicken ihm voll ins braun gebrannte, faltige Gesicht: Bradley Cooper als Leonard Bernstein im Prolog von „Maestro“.

Das Telefon läutet um 9.30 Uhr: Er muss an diesem Abend im Jahr 1943 einspringen für den erkrankten Dirigenten Bruno Walter: Der junge Lenny stürmt zum Erfolg, die Kamera bleibt ihm eilends auf den Fersen, wenn er den Konzertsaal erobert: Schumanns „Manfred“ in der Carnegie Hall mit dem Philharmonic Symphony Orchestra. Die Bilder erzählen in Schwarzweiß, sobald die Biografie in ihre frühen Zeiten zurückgeht.

In einem, mindestens in einem, war er dem großen Konkurrenten auf der anderen Seite des Atlantik überlegen: Leonard Bernstein (1918–1990) komponierte, Herbert von Karajan (1908–1989) dirigierte (und flog) nur. Drei Sinfonien, drei Bühnenstücke, fünf Musicals, darunter der bis heute mitreißende Welterfolg „West Side Story“ von 1957, Kammermusik, Filmmusik, Liederzyklen und manches mehr sind allein schon ein Lebenspensum. Was für Herbert von Karajan die Salzburger Festspiele bedeuteten, war für Bernstein sein Tanglewood-Sommerfestival in Massachusetts, wo er 50 Jahre lang musizierte, ausbildete, feierte und die Nation zu Lectures einlud.

Der um zehn Jahre jüngere jüdische Einwanderersohn Bernstein, Enthusiast und Mister Entertainment, und der die Musik als heilige Kunst zelebrierende Österreicher, der 1938 erstmals die Berliner Philharmoniker dirigiert und sie ab Mitte der fünfziger Jahre bis 1989 imperial geleitet hat, waren Antipoden. Beide, beflügelt von Genie, Charme, Ruhm und globaler Anziehungskraft. Halbgötter in (Frack-)Schwarz. Bernstein, der Medienstar, freisinnige Menschenfänger, große Kommunikator und Seelenmensch, war nahbarer, zumindest schien es so.

Karajan kommt in „Maestro“ nicht vor. Aber auch Lennys Mentor Serge Koussevitzky erhält nur einen Kurzauftritt. Der Musiker Bernstein steht hinter dem Genie-Menschen zurück.

Er war Musik. In ihm sang der Sommer.

Frappierend allerdings ist immer wieder, wie Bradley Cooper sich dem Musiker anverwandelt, die Zigarette zwischen den Lippen, das lockige Haar, das römische Profil, die unbändige Haartolle, der schlaksige und lässige Gestus des Körpers und der sprühende Geist. Im Hintergrund natürlich: Bernstein-Musik. Sie lässt den Film schwingen, gibt ihm Rhythmus, Elan, Schnelligkeit, auch Atmosphäre. Der Film leiht sich die Flirtnatur von ihrem Gegenstand und absoluten Subjekt.   

Lenny lernt in New York die Schauspielerin Felicia Montealegre kennen, die seine Herkunft und Ausbildung (Harvard, Philadelphia) am Schnürchen parat hat für uns Zuschauer. Sie wird seine Frau und die Mutter der gemeinsamen Kinder, an Krebs erkranken und 1978 früh mit 56 Jahren sterben. Carey Mulligan hat am Herzschlag dieses Films den größten Anteil. Sie ist sein Zentrum mindestens so sehr wie Coopers Bernstein, der seltsamerweise, je älter der Maestro wird, ihm desto ähnlicher zu werden scheint.

„Ein Kunstwerk beantwortet keine Fragen, es provoziert sie, und sein wesentlicher Sinn ist die Spannung zwischen den widersprüchlichen Antworten.“ So zitiert der Vorspann die Person, die der Film porträtieren wird. Ein ambitioniertes Motto, an dem Bradley Cooper sich offenbar selbst messen lassen will – und es dann auch muss.

Was aber ist nun mit den „widersprüchlichen Antworten“? Sie kulminieren auf der privaten und Persönlichkeitsebene. Im Musikalischen bleibt er sakrosankt. In einer Szene auf der Probebühne mit einer Choreographie aus dem Musical „On the town“ verwirbeln Ballett und Lebenswirklichkeit von Lenny und Felicia: im begehrenden Blick des Mannes auf Männer. Lennys Ehe und Familienleben mit Felicia – und ihren Kindern – war das Meer und war der Hafen und die Basis für die Möglichkeiten der kreativen Energie und Entfaltung und der Platz, um Melancholie, Leere und Erschöpfung zuzugestehen und abzulegen.

Die wechselnden Freunde („Schmalzbubis“, sagt Felicia einmal), die wie der Assistent Tommy partiell integriert werden und Einladungen übers Wochenende ins Ferienhaus erhalten, werden ihre eigenen Wege gehen, vielleicht ebenfalls Familien gründen und Väter sein. Oder sie leiden am Ausgeschlossen-Sein vom anderen Glück des geliebten und bewunderten Mannes.

Wer weiß, was es an Kränkung, Eifersucht, Hass-Neid, Lüge und an Gefühl von Verlust und Verrat gegeben hat auf allen Seiten? Die Spannungen des Doppellebens sehen wir durch Felicias Augen, ihren Argwohn, ihre Frustration, als sie ihm in einem dramatischen Dialog entgegnet, er möge sich seiner ihm innewohnenden Wut stellen, nicht bloß den (auch mit Kokain künstlich hergestellten) Menschheits-Umarmer spielen, und ihm seine Gleichgültigkeit, Selbstsucht und seinen völligen Mangel an Selbstliebe vorhält.

Was fehlt den zwei Stunden? Viel. An keiner Stelle gelingt es dem von Martin Scorsese und Steven Spielberg mitproduzierten und damit geadelten Film, den Dirigenten zu zeigen, wie er vor und mit dem Orchester die Musik, die wir in dem Moment (Gustav Mahler und Ludwig van Beethoven) hören, entwickelt und die ihm entströmt. Überraschend auch, dass Bernsteins Kompositionen oft dekorativ und dann wie irgendein Soundtrack wirken, ohne mit ihrem Schöpfer in intimen Kontakt zu treten.

„Wenn der Sommer singt nicht mehr, singt nichts in dir, und wenn nichts singt in dir, kannst du keine Musik machen.“ Diese Gedichtzeilen sagt ihm einmal Felicia auf, und am Ende zitiert er sie selbst, wehmütig, traurig, aber nicht ohne Hoffnung. Die Intensität und Innigkeit, mit der Bernstein Musik machte, nein, selbst Musik war, findet sich in diesem Moment in Bradley Coopers Gesicht.

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