Sobald hier das, was wir für das Leben halten, erzählt werden soll, stirbt der Film. Wenn aber die Kunst zum Bild (manchmal zum dokumentarischen Bild) wird, hebt die Totenstarre sich auf. Das ist die Wahrheit von "Cranko" entgegen seiner Absicht und Ambition, und ist zugleich in der Konsequenz das Scheitern des Filmprojekts. John Cranko (1927 bis 1973), in Südafrika geboren und in London groß geworden, von wo aus es ihn auf der Flucht vor dem Skandal wegen begangener "unerlaubter sexueller Handlungen" nach Deutschland bringt, vollbringt das Stuttgarter Ballettwunder.
Zu Beginn erfolgt auch eine Rückblende in die Kindheit, wo der Junge John durchs Fenster eine Szene furchtbarer Gewalt, das Auspeitschen einer Frau, beobachtet. Erst das Schreckliche des Menschen, so sinnt der Künstler-Choreograf, lässt uns das Schöne des Menschen bewusst werden. Autobiografie ist’s immer – es kommt auf ihre Verwandlung an.
Ankunft in Stuttgart. Cranko ist auf der Suche nach einer Familie, angesichts des zerrütteten Elternhauses, in dem er doch in Liebe zum Vater hing. Walter Erich Schäfer (Hans Zischler), Generalintendant der Württembergischen Staatstheater, engagiert ihn 1961 – eine ähnlich epochale Entscheidung wie die von Arno Wüstenhöfer, Pina Bausch an die Wuppertaler Bühnen zu holen.
Cranko spricht beim Whiskey von seiner religiösen Hingabe und der Transsubstantiation des Physischen ins Geistige. So sehr wir ihm glauben wollen, so wenig glaubhaft wirkt das Setting für diese und andere Bekenntnisse. Der Versuch, Szenen immer wieder ins Fantastische auffliegen, sich dem Irdischen entheben zu lassen und tänzerisch-träumerisch aufzulösen, macht die Erdenschwere der Steifheit und Unbeholfenheit der Inszenierung nur um so spürbar drückender.
Cranko bleibt einem nicht fern und fremd: der Mann, der Männer liebt und Frauen in ihrer Schönheit und Begabung erkennt, der Nonkonformist, Systemverweigerer, Lebenshungrige, Labile, einsam Liebende, der verlassen wird und das Glück nicht findet, ein Künstler, der kein Büro braucht, wo er doch den Ballettsaal hat und die Kantine. Er, der Shakespeare Wort für Wort auswendig kennt und von enormer Musikalität war, arbeitete mit Komponisten wie Bernd Alois Zimmermann, Henze, Britten und schuf, allein in Stuttgart, mehr als 50 Ballette. Sam Riley vermag, das Nonchalante, Charismatische, Traurige, Wehmütige, Verlorene Crankos darzustellen. Erkennbar wird, dass, wenn die tief(st)en Emotionen sich allein auf die künstlerische Arbeit richten, dies eine spezifisch krisenhafte Lebensverfassung erzeugen kann.
Mit Kino hat dieses Biopic von Joachim A. Lang wenig zu tun, es flirrt, sprüht, fliegt, lebt nicht. Schade, dass aus dem Kunstwerk Cranko ein Kleines Fernsehspiel, Lehr- und Rührstück gemacht wurde, was man nur dann vergisst, wenn das Ballett zu tanzen beginnt und wir etwa die Balkon- und die Todesszene aus "Romeo und Julia" sehen. Aber: Nichts passiert in und zwischen den Figuren. Außer, ja, wiederum, außer in den getanzten Momenten. Da scheint die Kamera entfesselt, beseelt von den Körpern und der Dramatik der Musik.
Wir begegnen Jürgen Rose als Bühnenbildner; sitzen mit Cranko in Peter Palitzsch’ Aufführung von Peter Weiss’ "Die Ermittlung" im Jahr 1965 – dem Erneuerungsjahrzehnt, auch für das Theater; sehen die Arbeit an Shakespeares / Prokofjews "Romeo und Julia" und an Puschkins "Onegin" zur Musik Tschaikowskys (nicht seiner Opern-Komposition); erleben das umjubelte Gastspiel an der Met in New York, bei dem die Compagnie heraustritt aus dem Schatten von George Balanchine und "A Miracle" schafft; wir hören von Crankos Idee seiner Brahms-"Initialen". Sehen die Geburt der Stars: Marcia Haydée, Birgit Keil, Richard Cragun ... Dann beziehen Cranko und die Seinen das ihnen von Stuttgart zur Verfügung gestellte Schloss Solitude (wo das erste westdeutsche Ballettinternat entsteht).
Crankos Ballett-"Schritte sind nicht einfach Choreografie, das ist eine Konversation!«. So heißt es in dem im Henschel Verlag erschienenen Bildband über den "Tanzvisionär". Schritte, die nicht vom Kopf kommen, sondern vom Herzen. Als sich die deutschen Tänzer*innen in einem Offenen Brief darüber beschweren, die Truppe sei zu international, fühlt sich Cranko, dessen Sensorium für Rassismus geschärft ist, verraten.
Der Tod kommt – scheinbar – plötzlich, während eines Flugs. Auch für Cranko gilt: Er konnte alles auf der Bühne, aber wenig im Leben, An seinem Grab defilieren hier die Darsteller und ihre noch lebenden realen Vorbilder vorüber – als letzte Marcia Haydée und ihre Interpretin Elisa Badenes. So wächst der Film zum Schluss ins Historische.
(Nach der Premiere in der Lichtburg, Essen, ist der Kinostart am 3. Oktober.)