Die Sonderfälle werden seltener in unserer gegenwärtigen, sich immer mehr einebnenden Filmlandschaft. Veit Helmer, 1968 in Hannover geboren, ist ein solcher, eine Kuriosität im besten Wortsinn und der deutsche Wes Anderson. Vor 25 Jahren, damals bereits Regisseur mehrerer Kurzfilme, hat er seinen wunderbaren "Tuvalu" ins Kino und mit ihm eine ganze eigene Farbe ins Spiel gebracht.
Dies gilt auch für die neue filmische Freifahrt "Gondola". Die Seilbahn schwebt gemächlich über ein idyllisches, in Dunst gesponnenes Gebirgstal, die Zahnräder drehen sich, Kinder winken, die Kabinen tanzen aneinander vorbei wie im Pas de Deux. Die Station sieht so antiquiert aus wie das kasachische Lummerland in Helmers früherem Film "Vom Lokführer, der die Liebe suchte". Ebenso malerisch und verwunschen, wie aus der Zeit gefallen.
Für "Gondola" hat Helmers Geschichte ihren Platz in Georgien gefunden. Eine junge Frau kommt in einem bäuerischen Dorf an. Die Leute machen die Fenster zu, als sie vorübergeht, sie betritt ein Holzhaus, vor dem ihr eine schwarz gekleidete Alte begegnet, die sie abschätzig anblickt und ihr den Schlüssel vor die Füße wirft. Im Haus betrachtet sie eine alte Fotografie, wir stellen uns vor, dass sie darauf auch sich selbst als Kind sieht. Auf dem Friedhof wird ein Sarg in die Erde gelassen: Der alte Schaffner ist tot, seine Witwe verbittert – Iva (Mathilde Irrmann) zurück in der Heimat, wo man sie nicht liebt, aber sie dennoch die Rolle, Funktion und Uniform des Gestorbenen übernimmt, um die Gondel zu lenken.
Es gibt bereits die zu Beginn misstrauische Kollegin Nino (Nini Soselia), die Iva anlernt, die für die andere Gondel zuständig ist und soeben eine Bewerbung als Stewardess losgeschickt hat, denn sie möchte fort. Aber kleine Aufmerksamkeiten stiften zwischen ihnen Freundschaft, bis die Stimmung kippt und kurz ein Konflikt ausbricht, in dem die Gondeln zu Kampfgerät aufgerüstet werden.
Die zwei Gondeln transportieren nicht nur Passagiere (und einen Rollstuhlfahrer), sondern auch Lebensmittel für Bewohner abgelegener Plätze im Gebirge. Oder es lässt sich von hoch oben ein Netz auswerfen und ein Granatapfel vom Baum einholen. Die beiden Luft-‚Fräuleins’ machen sich einen Spaß daraus, während ihrer Auf- und Abfahrten Schach zu spielen und jeweils einen Zug zu ziehen und der Anderen im Vorbeiflug die ausgeschaltete Schachfigur triumphal zu präsentieren.
Sie schmücken die Gondeln fantastisch aus und gestalten sie zum Vehikel für Träume von weiter Ferne und Fantasien vom Anderswo, ob New York oder dem Mars, sowie zum Gefährt erotischer Lusterweckung, bei der ein (böser) Mann – ihr Boss – nichts zu suchen und zu gewinnen hat.
Wieder ist Helmer auf seine eigenwillige Weise ein Heimatfilm gelungen. Und ein Stummfilm, aber nur insofern, als nicht gesprochen wird. Doch es gibt die Menschen verbindenden Geräusche und Musik, das Kling-Kling eines Glöckchens an einem Korb, mit dem ein Junge um ein Mädchen wirbt, Münzen, die klimpernd kassiert werden, eine singende Säge, singende Schüsseln, Töpfe und Gläser, die ein Paar feiern, mal ein melancholisches Lalala oder auch mal ein böses Lachen. Zunächst und vor allem ist "Gondola" ein Märchen, ein realistisch zärtliches, das erzählt von Einsamkeit, Unverständnis, Argwohn, Eifersucht, Zuwendung und Glücksfindung.