
Der Tod trieb ihn um und trieb ihn an – vor allem in der Spätphase seiner vorzeitig beendeten künstlerischen Laufbahn: Im „Holbein-Zyklus“, der letzten Fotografie-Serie von Ingolf Timpner, spielt der Sensenmann die Hauptrolle. Allerdings haben die malerisch bearbeiteten Schwarzweiß-Aufnahmen nichts Morbides. Im Gegenteil: Regelrecht munter präsentiert sich dieses Skelett: Mal ist es vor Timpners Düsseldorfer Atelier zu sehen, mal läuft es eine Treppe herunter, dann wieder erscheint es an der Seite eines jungen weiblichen Modells, dem es kokett den Hut zurechtrückt.

Sollte man dieses finale Werk eines Künstlers, der seinem Leben 2018 ein Ende setzte, als Vermächtnis betrachten? Falls ja, dann ist es ein Vermächtnis, in dem Vitalität und Melancholie eine eigenartige und faszinierende Paarung eingehen. Anders als der „Totentanz“, den der Renaissance-Maler Hans Holbein der Jüngere 1526 als Holzschnittfolge veröffentlichte, betont Timpner das Versöhnliche, vielleicht sogar Tröstliche in unserer Begegnung mit dem Unausweichlichen.
Am 10. Mai hätte der in Mönchengladbach geborene Künstler seinen 60. Geburtstag feiern können. Anlass für die Städtische Galerie im Park im nahegelegenen Viersen, Ingolf Timpner eine Retrospektive auszurichten, die rund 130 Werke umfasst. Organisiert wurde die Werkübersicht mit dem Titel „Übergangsphänomene“ in Zusammenarbeit mit der in Düsseldorf ansässigen ITNS Nachlassverwaltung. Nahlah Saimeh, die Frau des Künstlers, kümmert sich seit 2018 um Erforschung und Präsentation des Œuvres, das rund 2500 Werke umfasst – hauptsächlich analoge Schwarzweiß-Fotografien, aber auch Skulpturen und Objekte. Auf der ITNS-Website hat die forensische Psychiaterin viele Informationen, Texte und Videos zu Timpners Kunst zusammengeführt. Zu dessen 60. Geburtstag erscheint jetzt das von Nahlah Saimeh herausgegebene Buch „Vom Augenblick des Überzeitlichen“; versammelt sind darin 60 Werkbetrachtungen.
Früh schon interessierte sich Ingolf Timpner für Fotografie. Bereits als 15-Jähriger widmete er sich der Kamera-Kunst mit professioneller Leidenschaft. Der Autodidakt studierte die Alten Meister, ließ sich bei seinen sorgfältig inszenierten Porträts und Stillleben von Gemälden der Renaissance und des Barocks inspirieren – auch die klassizistischen Skulpturen von Christian Daniel Rauch und Bertel Thorvaldsen dienten ihm als Impuls für seine Bilder, die er mit alten Rolleiflex-Kameras herstellte und selbst in seiner Dunkelkammer entwickelte. Weil er dabei einen Naturschwamm verwendete, haben die Silber-Gelatine-Prints eine beinahe malerische Oberfläche. Diesem Verfahren verdanken sich auch die für Timpner typischen Ausflockungen am Rande des Abzugs. Vor manchen dieser ebenso eindringlichen wie schönen Bilder fühlt man sich erinnert an den Piktorialismus, jene kunstfotografische Stilrichtung des frühen 20. Jahrhunderts, die mit der Kamera zu malen versuchte. Auch die Vorliebe für Symbolik teilte Timpner mit den Piktorialisten.



Seine Porträts sind mehr als akkurate Darstellungen von Menschen – Timpner lotet tiefer, will Wesentliches erfassen, vielleicht sogar das Wesen. Bei seinem Selbstbildnis in Dürer-Pose, entstanden im Zuge eines Gemeinschaftsprojekts mit der österreichischen Künstlerin Irene Andessner, wird dieser Anspruch besonders deutlich. Aber auch bei der Serie der „Wahlverwandtschaften“ spürt man den Drang, einer vielschichtigen Persönlichkeit gerecht zu werden – hier präsentieren sich die Modelle mit einem Gegenstand, der für sie besonders bedeutsam ist.
Schließlich Ingolf Timpners letztes Selbstbildnis, entstanden 2016: „Danse Macabre“ hat er es genannt. Abermals bezieht er sich auf einen berühmten Künstler – hier auf Arnold Böcklin, dessen 1872 gemaltes „Selbstporträt mit fiedelndem Tod“ im Besitz der Berliner Nationalgalerie ist. Wie bei Böcklin schaut auch Timpner dem Betrachter unverwandt ins Gesicht. Anstelle von Böcklins musizierendem Skelett macht Timpner eines seiner Modelle zur finalen Komplizin. Wiederholt hat Arnold Böcklin den Tod thematisiert – am bekanntesten ist seine „Toteninsel“. Mit seinem „Danse Macabre“ (und nicht nur dort) erweist sich Ingolf Timpner als kongenialer Nachfolger. Auch das ein Beispiel von Wahlverwandtschaft, die als eines der Leitmotive über seinem Werk stehen könnte.
