Mit einem Riesenkrach fliegt das kleine Gebäude in die Luft und hinterlässt auf der leeren Bühne die Bruchbude als einen Haufen zersplittertes Holz und umgestürzter Möbel. Nun geht es ans Aufräumen, besonders auch der inwendigen Trümmer.
Er wusste, wovon er in diesem Schlüsseldrama schrieb: „mit Blut und Tränen“. Es war seine eigene Welt, die eigene Familie, der er den Namen Tyrone gab und in das Jahr 1912 situierte. Der jüngere Sohn von Mary Cavan und James und kleine Bruder von Jamie ist mit Edmund Tyrone ein Abbild des Autors Eugene O’Neill. Alkohol und Morphium, Krankheit und Einsamkeit, ein paar Todsünden, Schuld und Sühne befruchten diesen amerikanischen Dostojewski-Kosmos mit seinen Konfessionen, mit Verleugnung und Heimsuchung, bohrender Psychologie und dem Leiden, nicht vergessen zu können.
Eine lange Weile währt der Abend im Bochumer Schauspielhaus: zwei Stunden und noch einmal eine nach der Pause. Neben der Familie Tyrone spielt noch jemand mit: die Zeit selbst. Aber sie geht nicht nach der Uhr. Wir sehen und hören zu, einfach so, vergessen beinahe, dass es Theater ist , obwohl uns die Unnatur der Szenerie vor Augen steht als zertrümmerte und zerstobene Hoffnung im Nebelmeer des Lebens.
James (der knarzige, galant-schratige Pierre Bokma), der Schauspieler, berühmt durch nur eine Rolle, reich als Grundstückspekulant, geizig aus der Erfahrung seiner elendigen Kindheit; seine Frau (Elsie de Brauw), süchtig nach der Droge seit Geburt ihres jüngsten Kindes; Jamie (Guy Clemens), ein Alkoholiker und bar jeder Illusion; Edmund (Alexander Wertmann), sterbenskrank und vom Dasein erschöpft. In ihrem schäbigen Sommerhaus am Meer kämpfen sie sich durch den Tag und die Nacht. Meistenteils bleibt der Ton moderat, aus der Einsicht, dass es unsinnig sei, aufzutrumpfen. Keine Steigerungs-Kurve, nur Gleichlauf und Stillstand. Ebbe, nicht Flut.
Edmund birgt sich zweimal in den Überresten des Hauses, als könne ihm das Gerümpel Schutz und Wärme spenden. Der eine zieht aus dem Plunder etwas hervor, ein anderer schleppt es herbei und stapelt es. Unheroische Helden der Schwäche, die Verrichtungen nachgehen, deren Banalität ihnen das mythische Maß nimmt. In einem rührenden Intermezzo erscheint Elsie de Brauw als »Fixerin« Mary, jungmädchenhaft ausgelassen und flatternd, als sei sie in ihrem hellgrünen und lavendelfarbenen Chiffon ein zarter Schmetterling mit gebrochenen Flügeln.
Auf der großen weiten Bühnenfläche mit dem verstreuten Strandgut eines Haushalts (Eva Veronica Born) schaffen es diese paar verlorenen, unbefestigt kaputten Seelen, dass wir ganz bei ihnen sind und sie unser Erbarmen haben, weil wir ahnen, dass es auch uns gelten könnte.
Abhängigkeitsverhältnisse: Die Vier in ihrem Notstand haben nichts als sich selbst und den Anderen – Vater, Mutter, Sohn, Mann und Frau und Bruder, die sie verletzen, um sich danach wieder ans Herz zu drücken. Im Letzten verletzen sie sich selbst. Deshalb ist das, was sie tun, zu verzeihen. Johan Simons – und sein Ensemble – nehmen es genau; er blickt gewissermaßen ohne mit der Wimper zu zucken auf sie, auf dass wir im Rücksichtslosen den Ursprung der Gnade erkennen.
Am Ende sitzen die Vier ermattet da. Aufruhr hat sich aufgezehrt. Ernüchterung nach dem Exzess. Es dunkelt. Doch erhellt ein wenig Licht die Schwärze. Es wäre zu viel, dies Hoffnung zu nennen. – Jubel für großes Menschentheater.