Star, bunter Vogel, Künstlergenie – von diesen Kennzeichnungen würde man mit Blick auf sein Äußeres kaum eine für zutreffend halten. Der Tipp beim Berufe-Raten ginge sicher eher in Richtung Naturwissenschaftler. Und das wäre auch noch nicht einmal ganz falsch. Tony Cragg hat den weißen Kittel allerdings schon vor mehr als 50 Jahren abgelegt. Die Arbeit im biochemischen Labor sei so öde gewesen, dass er mit dem Zeichnen angefangen habe. „Zunächst aus purer Langeweile“, wie er gesteht. Doch fand der Brite offenbar bald so viel Gefallen am zeichnerischen Zeitvertreib, dass er sich zur 180-Grad-Wendung entschloss und als Künstler weiter machen wollte. Cragg nahm sein Studium am Gloucestershire College of Art and Design auf, besuchte anschließend die Malklasse der Wimbledon School of Art, bevor er 1973 an das Royal College of Art in London wechselte.
Seine Heimat hat der 1949 in Liverpool geborene Bildhauer 1977 verlassen, um die recht reibungslose Karriere von Wuppertal aus weiterzuverfolgen. In den 1980er Jahren ging es Schlag auf Schlag, ein großes Ausstellungsereignis folgte dem anderen: 1982 und 1987 stellte Cragg auf der documenta 7 und 8 aus, 1988 vertrat er sein Heimatland auf der Venedig-Biennale. Im selben Jahr erhielt er noch dazu den renommierten Turner-Preis.
Heute managt der Bildhauer mit viel Erfolg ein Großatelier in Wuppertal, wo er ein gutes Dutzend handwerklich versierter Helfer dirigiert. Nebenbei erntete Cragg von 2009 bis 2013 viel Anerkennung als Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie – als Ehrenmitglied ist er der Hochschule nach wie vor verbunden. Nicht zuletzt richtete er in Wuppertal rund um die denkmalgeschützte Villa Waldfrieden den Skulpturenpark Waldfrieden ein. 2008 wurde das Freilichtmuseum eröffnet. In jedem Jahr werden hier mehrere Sonderausstellungen präsentiert.
Bei all dem scheint aber die Vorgeschichte als Biochemiker nicht unwichtig. Ist doch in seiner Arbeitsweise von jeher so etwas wie naturwissenschaftliche Methodik auszumachen. Ausdrucksformen und Verfahren werden planvoll durchprobiert – wie in Versuchsreihen. Er bespiegelt ein skulpturales Prinzip von vielen Seiten, versucht diese und jene Variation, bis die Sache ausgereizt scheint, bis er keine neuen Ergebnisse mehr erwartet.
Als die gut verkäuflichen Skulpturen noch fern waren, testete der Bildhauer in eher ephemeren Arbeiten das Wesen unterschiedlicher Werkstoffe aus. Indem er etwa ein Seil in die Luft warf oder aus Backsteinen schiefe Türme baute, die - an eine Wand gelehnt - ihren Einsturz quasi vorwegnahmen. Oder wenn er die Konturen des eigenen Körpers mit Kreide nachzeichnete. Von hier aus ist es gar nicht mehr weit zu den um 1980 entwickelten Wandreliefs aus buntem Plastikmüll. Der Künstler sammelt dafür Deckel, Griffe, Flaschen, Splitter – Reste, die er farblich sortiert und zu lebensgroßen Schattenfiguren formiert. Ein weiteres wesentliches Thema des Werkes zeichnet sich gegen Ende der 1980er-Jahr in den „Early Forms“ ab. Cragg leitet die „Frühformen“ vom Gefäß ab, das er aus der Fassung und in Bewegung bringt. Er quetscht, dehnt, faltet. Was dabei herauskommt, mutet nicht selten wie ein merkwürdiges Gemisch aus organischem Gewächs und mechanischem Gerät an. Folgenreich auch die Idee der „Rational Beings“, die das charakteristische Prinzip der Schichtung von runden Scheiben variieren.
In unterschiedlichen Werkgruppen, Strängen, Phasen breitet Cragg sein Werk aus. Er greift auf und verwirft, entdeckt Neues und denkt bereits Gefundenes weiter. Es sind wohl nicht zuletzt die Wandelbarkeit, die ständige Suche nach neuen Möglichkeiten, Materialien, Gestaltungen, die sein Werk bis heute interessant und auf der Höhe halten. Bei manchem Bildhauer reichen vielleicht ein oder zwei wesentliche Arbeiten, den Kern seiner Kunst erkennbar werden zu lassen. Bei Cragg muss man sicher zehn bis zwanzig sehen, um überhaupt erst zu verstehen, was Skulptur für ihn bedeutet. Manchmal, so sagt der Künstler, wache er mitten in der Nacht auf – total ergriffen von etwas, das er noch machen sollte. „Sobald eine Skulptur fertig ist, stehe ich im Grunde genommen schon vor der nächsten.“