Kein Farbgeruch in der Luft, keine unfertigen Bilder auf der Staffelei. Verschmierte Paletten und verklebte Pinsel fehlen. Kein Ton, der modelliert, keine Pappe, die geklebt wird. Stattdessen imponiert im Aachener Hinterhaus ein Koloss von Rechner, der, vom Boden bis zur Decke bunt blinkend, seine Arbeit tut. Tim Berresheims Reich: Es hat wenig vom klassischen Künstleratelier, viel mehr vom Firmensitz eines Kreativ-Unternehmens.
An diesem Vormittag sitzen nur zwei Mitarbeiter an Monitor und iPad. Doch mitunter sind es um die 20, die Berresheim bei der Verwirklichung seiner digitalen Ideen unterstützen und das organisatorische Drumherum erledigen. Zuletzt war das Team ein ganzes Jahr lang unter Hochdruck aktiv für das Heinsberger Land.
Für die Gegend, in der er groß geworden ist, hat der Künstler eine „Bilderreise“ entworfen, auf der sicher immer wieder auch Erinnerungen unterwegs sind. Per Fahrrad geht man auf Tour und begegnet auf der rund 90 Kilometer langen Route 17 virtuellen Werken. Sehen und erleben kann das Augmented-Reality-Spektakel allerdings nur, wer Smartphone oder Tablet dabei und am besten auch schon die passende App geladen hat.
Dann erscheinen die belebten Bilder: geisterhafte Gestalten, bewegte Objekte, digitale Collagen, surreale Arrangements erweitern die Wirklichkeit an ausgesuchten Orten – beim ehemaligen Kreuzherrenkloster Haus Hohenbusch etwa oder mit Blick über den romantischen Weiher, das Schloss und die Mühlen in Tüschenbroich. Berresheim: „Den Begriff der Heimat mit der Digitalität noch einmal neu zu besetzen, war für mich eine große Freude.“
Der Computer macht‘s möglich. Während unten im Aachener Firmensitz der blinkende Wunderturm mit 250 Rechenkernen mit daran arbeitet, unsere Wahrnehmung mit solch ausgeklügelten Projektionen anzureichern, steht eine Etage höher der Schreibtisch des Künstlers. Wenn er hier sitzt, ruht zu seinen Füßen ein präpariertes Krokodil. Und daneben an der Wand reihen sich Regale mit tausenden echten LPs – Musik mag und macht der Künstler auch.
Die Fenster hier oben im Büro sind verhängt, das Licht ist etwas schummrig. Genau so mag er es: „Ich habe einfach gerne meine Ruhe.“ Die ständigen Neuerungen im Digitalen, das sei für ihn aufregend genug: Jeden Tag neue Tools, jeden Tag neue Möglichkeiten, das Bild wieder anders zu bearbeiten. „Für mich ist es das maximale Abenteurertum, darin zu navigieren – die Außenwelt brauche ich dann nicht.“
Es liegt ihm, fortwährend dazuzulernen. Als Autodidakten und Euphoriker beschreibt sich Berresheim, spielgetrieben und spaßgesteuert. Davon lebt seine Kunst – seit den Anfängen. Mit dem Vorsatz, Filmemacher zu werden, hatte er 1999 das Kunststudium in Braunschweig aufgenommen, war dort aber schnell umgeschwenkt. Das Standbild erschien ihm nun interessanter. Und weil Berresheim der Link zum Digitalen reizte, wechselte er etwas später nach Düsseldorf. In die Klasse von Albert Oehlen, der schon damals für seine Kunst den Rechner nutzte.
„Gehst Du nach Düsseldorf und lernst, wie man mit dem Computer Bilder macht“, das habe er sich damals gedacht. Doch ganz so einfach war es nicht. Schon damals hat er sich das Meiste als Autodidakt aneignen müssen. Heute ist Berresheim 46 und weiterhin auf der Lauer, technologische Neuigkeiten aufzutun, die sein Werk voranbringen können.
Zum Beispiel, wenn er Foyers oder ganze Treppenhäuser mit digitalen Abenteuern tapeziert. Wie zuletzt in einem Düsseldorfer Unternehmens-Quartier. Vorangegangen waren viele Gespräche mit den Mitarbeitern: Was ist ihnen wichtig, wie erleben sie ihren Arbeitsalltag, was macht ihn interessant? Ein Jahr lang dauerte dieser partizipative Prozess. Und am Ende konnte sich wahrscheinlich jeder, der im Haus arbeitet, irgendwie wiederfinden in Berresheims großflächiger Wandarbeit.
Solche digitalen Werke wollen nicht mit allem Alten brechen. Den Computer setzt Berresheim hier eher als eine Art Schmelztiegel ein, in den traditionelle Bildmedien – Malerei, Fotografie – transformiert und zu etwas Neuem werden können. Eine Brücke zwischen Analogem und Digitalem schlägt dabei immer wieder die von Hand, quasi als Unikat, gestaltete Oberfläche der virtuellen Wesen. In akribischer Kleinarbeit wird die "Haut" der oft menschlich anmutenden Schöpfungen von einem Diese mehr oder weniger menschliche und traditionell künstlerische Zugabe mag dazu beitragen, dem Bild etwas von seinem coolen Computer-Image zu nehmen. Und genau das ist Berresheims Ziel: Er will, dass das heute oft noch als kühl und falsch betrachtete Digitale zum integralen Bestandteil unserer Wahrnehmung wird. Dazu fällt ihm Walt Disney ein. In den 1920er Jahren bereits habe der sich die Frage gestellt, wie die Menschen sich von seinen neuen Zeichentrickfiguren emotional anrühren lassen. Kann ein Bambi uns zum Weinen bringen?
Kann ein „Corona-Freundchen“ uns den Lockdown versüßen? So könnte die Frage heute lauten. Einen Versuch wäre es wert, hat Berresheim sich vielleicht gedacht und in den einsamen Monaten eine ganze Reihe solcher Kumpels entworfen, die man auch ohne Test und Mund-Nasen-Bedeckung unbesorgt in die Wohnung lassen kann. Dort stehen die virtuellen Wesen angetrunken im Flur herum, raven in der Küche, kauern im Kinderzimmer. Oder wecken im Wohnzimmer unseren Fitness-Ehrgeiz mit ihren tadellosen Liegestützen. Die Freundchen kommen ganz ohne Farbgeruch. Und wenn sie wieder gehen, bleiben garantiert keine Flecken auf dem Parkett.