Mit seinen "Verhaltenslehren der Kälte" hat der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen eine politische, künstlerische und philosophisch-moralische Diagnose für die Zeit zwischen den Weltkriegen getroffen (es will einem vorkommen, als ließe die Reaktion auf die fortdauernden Nachrichten aus der Ukraine und auf den Terror gegen Israel vom 7. Oktober 2023 auf ein Wiederholungsschema schließen). Das Phänomen Kälte bindet sich für Lethens epochale Studie an Sekundärtugenden der Selbstkontrolle, Härte, Disziplin und an ein Denkmuster, das nur Kategorien von Kampf, Freund-Feind und Sieg-Untergang kennt.
Über die Sprache nach Auschwitz – das gilt auch für die Sprache über Auschwitz – sagte Paul Celan, dass sie hindurchgehen müsse »durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten«. Der im vergangenen Mai gestorbene britische Autor Martin Amis versucht in seinem Roman »The Zone of Interest« Antwort zu geben und dies nicht ohne störende und verstörende Kolportage. Jonathan Glazer hat den Roman seines Landsmanns verfilmt und die fiction dabei überwunden, hat die Buchvorlage konkretisiert, die Figuren aus der Anonymität befreit, sie psychologisch durchgestaltet, beinahe übermalt und ihnen den Rang sowohl dokumentarischer wie künstlerischer Wahrhaftigkeit gegeben.
Monochromes Anthrazit-Dunkel. Kein Bild erscheint auf der Leinwand, nur Mica Levys dräuender Sound zwischen Minimal Music, experimentellen Zisch- und Murmeltönen und eskalierendem Chaos erreicht den Zuschauer. Minuten später wird es grell hell. Ein falsches Bild am falschen Ort: das Panorama eines Naturidylls mit picknickender Familie. Im Freien. Es handelt sich um Rudolf Höß (Christian Friedel), seine Frau Hedwig (Sandra Hüller) und ihre fünf Kinder. Sie leben in einem hortus conclusus. Der verschlossene Garten, ein religiöses Motiv mit mystischer Aufladung, wird hier travestiert ins schauderhaft Verkehrte und absurd Perfide. Jenseits von Eden, von Haus und Gemüsegarten und Gewächshaus, die von Häftlingen gepflegt werden, befindet sich die absolute Antithese: Auschwitz. Der Unort schlechthin lässt sich nur über das Tatsächliche, nicht über seine Nachstellung zeigen, was Jonathan Glazer beherzigt bis zum und gerade zum Schluss, wenn er uns mit der Gedenkstätte Auschwitz konfrontiert.
Bei Martin Amis gibt es eine Dreiecksgeschichte und die Innenbeschau des Lagers. Glazer lässt sie weg, und er bleibt draußen, wohl auch aus der Einsicht, dass hier das Bilderverbot greift, vielmehr aber noch um zu intensivieren und sich darauf zu konzentrieren, was ja das Ungeheuerliche ist: das Behaupten von kleinbürgerlicher Normalität im Angesicht der Aufhebung aller Gebote und Regeln und, wie Thomas Mann es genannt hat, des »Menschenanstands«. Allein dass den Schrecken und Terror Laut werden lassende Geräusche über die mit Stacheldraht bewehrte ‚Grenze’ hinübertönen und sich unters fröhliche Kindergeschrei mischen. Und dann ist da der Rauch aus den Kaminen, und es schwimmen Reste von Knochen im nahen Fluss. Nun gut, da müssen die Kinder sich eilends waschen gehen.
Die Summe des Entsetzens ist zerlegt in Einzelteile: wie Hedwig sich einrichtet in der unbezweifelten Privatheit ihrer Wohnräume und ihre Kleiderschränke mit Raubgut füllt, das denen gehört hat, die nebenan vergast werden; wie sie sich »Königin von Auschwitz« nennen lässt und verweigert, von ihrem schönen Heim nach Oranienburg umzuziehen, als ihr Gatte dorthin bestellt wird; wie sie die Aussicht auf die Mauer mit Rosen und Reben bepflanzt und ihrer zu Gast angereisten Mutter das Störende der Umgebung erklärt, als handle es sich um eine lästige Baustelle; wie sie Freundinnen berichtet, in einer Zahnpasta-Tube einen Diamanten gefunden und daraufhin mehr davon aus der Häftlings-Habe geordert zu haben; wie Vater Höß seinen Kindern das Märchen von Hänsel und Gretel vorliest, das der Film in eine visuelle Negativ-Fantasie umwandelt; wie Besucher aus Berlin den Massenmord erläutern, indem sie die machine infernale als x-beliebige technische Fabrikation präsentieren und Höß seine Vorschläge zur effektiveren Beseitigung der »Ladungen« vorbringt.
Sandra Hüller versteift sich in Körper und Geist dieser Frau hinein, die neutralisiert, was um sie her passiert. Die aufs Banale gerichtete frostige Emotionslosigkeit, die eine Verdrängungsleistung zu nennen einem widerstrebt, schafft ein furchtbares Porträt. Glazers in seiner Temperatur heruntergefahrener, krass symmetrisch ausgerichteter, Atem beraubender Film, der in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde und für Hüller zum zweiten Triumph neben »Anatomie eines Falls«, verlangt uns ab, den Wesensbefund vom Individuellen hin zum Kollektiv auszuweiten. Hedwig Höß verwirkt vor unseren Augen das, was einen Menschen zum Menschen macht. Nun müssen wir, wieder und immer wieder aufs Neue, die Verhaltenslehre daraus ziehen.