Am Anfang ist der Tod, 1893, die Bestattung des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski, der seine Witwe Antonina Miljukowa, die ihn „vergöttert“ hat oder haben will, beiwohnt. Die Verstoßene, Verhasste erscheint an seinem Leichenbett. Tschaikowski wehrt sich. In einer furchtbaren, in verwesendem Grün eingefärbten Phantasmagorie erhebt sich der Tote (Odin Lund Biron) von seinem Lager und verweist sie des Ortes. Eine Verlorene.
Rückblende. Moskau im Jahr 1872. Eine vornehme Abendgesellschaft. Der hofierte Komponist begegnet der sehr viel jüngeren Elevin Antonina, die alles daransetzen wird, seine Schülerin am Konservatorium zu werden, die ihm schreibt, seine Nähe sucht, um ihn wirbt, sich ihm andient. Er weist sie ab, freundlich, doch bestimmt. Aber sie hat den Mut oder den Wahn, für sich den eigenen Schicksalsfaden spinnen zu wollen und Tschaikowski zu fesseln. Der willigt in die Ehe ein, unter der Bedingung, dass sie einverstanden sei mit „einer stillen, ruhigen Liebe“ wie mit einem „Bruder“.
Klaus Mann weiß es besser als Wladimir Putin. In seiner Roman-Biografie „Symphonie Pathétique“ stammen – der Autor und älteste Sohn von Thomas Mann kannte genau, wovon er schrieb – Kunst und Sexualität aus einer Wurzel: „es hatte viel Bitterkeit gegeben, die zu verwandeln gewesen war in Töne“. Russlands Präsident hat sich einmal überwunden und Pjotr Iljitsch Tschaikowski, den bedeutendsten Komponisten des Landes, dessen Musik seinen Landsleuten oft zu westlich erschien, während sie in westeuropäischen Ohren östlich-slawisch klang, als „schwul“ bezeichnet. Um hinzuzufügen, dass er nicht deshalb geliebt würde, sondern wegen seiner Musik. Eine verkehrte Differenz und Differenzierung. So operiert man bei einem Menschen auseinander, was zusammengehört.
Der im deutschen Exil lebende russische Regie-Künstler Kirill Serebrennikov, der bei der am 16. August beginnenden Ruhrtriennale die Theater-Kreation „Legende“ uraufführen wird, trennt auch, aber aus einem anderen Geist und mit anderer Konsequenz. Für Tschaikowski, so seine Sicht, ist die Frau nicht mehr das unentbehrliche Bindeglied zur sozialen Akzeptanz, sondern wird zum Störfaktor, den er aus seinem Leben verbannt, das dennoch eines der Gleichschaltung bleibt. Den Skandal, der ihn zum Paria von Moskau bis Berlin, Paris und London gemacht hätte, vermeidet er. Nur ein Jahrzehnt später wird in England Oscar Wilde zur Antithese gezwungen.
Madame Tschaikowski ist hier nichts weniger als wie eine Romanfigur von Henry James, der in eben diesen Jahren sein „Portrait of a Lady“ schrieb, ist mädchenhaft wie von Vermeer gemalt, bis sie zur Hyäne wird. Dass Aljona Michailowa nicht den Darstellerpreis in Cannes gewonnen hat, wo der Film 2022 im Wettbewerb lief, ist völlig unverständlich. Oft sehen wir sie in einer Menschenmenge, wie unter die Meute der Leute, feinen oder elenden, gefallen. Dabei will sie nur den einen, partout. Ein kurzer Triumph. Eine fatale Entscheidung.
Wir wohnen Szenen bebender Erschütterung bei, die das Unmögliche und Unvereinbare erzählen. Wie für Antonina die Einsamkeit der Natur zu ihrer eigenen wird. Wie ein Fest arrangiert wird, auf dem Antonina allein mit Pjotr unter Männern ist. Ein Freund Pjotrs gibt ihr den Rat: „Geh weg von ihm“. Und wie in einer ungeheuren Provokation für die ‚christlichen’ Werte des heutigen russischen Staatswesens Antonina fünf attraktive Männer offeriert werden, um sie Pjotr vergessen zu lassen: Sie greift zu.
Zuvor wurde sie von Tschaikowskis Brüdern und Schwager und dem großen Pianisten Nikolai Rubinstein genötigt, ihren Mann um dessen seelischer Gesundheit und kreativen Entfaltung willen zu verlassen, allein zu leben oder bei Tschaikowskis Schwester Sascha und deren Familie. Aber selbst diese Lösung ist dem Ehemann auf dem Papier zuwider und zu nahe. Angeboten wird eine Scheidung mit angenehmen Konditionen. Sie weigert sich.
Wer ist mehr zu bedauern, sie oder er? Ihre verzweifelte Zudringlichkeit und verkrampfte Hartnäckigkeit, seine Abwehr und panische Flucht, ihre wahnhafte Ignoranz, sein und ihr Verleugnen? Es schnürt einem den Atem ab. Sie will nicht begreifen. Man kann sie eine Romantikerin nennen oder eine Egomanin, aber womöglich ist das kein Widerspruch.
Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Diese Frage begleitet Serebrennikovs Film, wobei sich, ohne dass es auch nur angedeutet würde, dieser Konflikt auf das gegenwärtige Russland und die Haltung seiner Menschen beziehen lässt. „Madame Tschaikowski“, der in des Komponisten und Regisseurs Heimat natürlich nicht zu sehen ist, steht jetzt als Streaming zur Verfügung (Apple TV, Prime Video).
So bedächtig traditionell der 140-minütige Film beginnt, der seine Musik dramaturgisch raffiniert vieldeutig einsetzt, so sehr dreht er ab in ein spektakuläres Delirium der Sinne, der Wunschträume, Lust- und Schreckensbilder und des Irrsinns einer heillos vergifteten amour fou. Darin gleichgestimmt den samtenen Abgründen von Tschaikowskis Musik. Antonina Tschaikowskaja starb 1917 in einer Irrenanstalt. Draußen rüttelte die Revolution an den Fundamenten der alten Welt.