Am interessantesten ist es für ihn dort, wo es für andere kompliziert werden würde. Prächtige Bühnenhäuser? Hat Rochus Aust zuhauf bespielt. Tradierte Konzertbetriebe? Kennt er (zu) gut. „Alles was eine sehr große Kultur und Geschichte hat und alles was es schon länger gibt, ist zu eng“, sagt Aust ganz lapidar – und meint damit doch mehr als nur Orte, Konzertformate oder den klassischen Musikkanon an sich. Wer für Rochus Aust eine Branchenbezeichnung finden will, könnte ihn als „Raumwandler“ bezeichnen. „Visuellen Trompeter“ hat man ihn auch schon genannt, weil er in seiner Musik immer die Kunst mitdenkt.
Vielleicht würde auch das Wort Weltenöffner passen, denn in gewisser Weise ist er das: Ein Musiker, der anderen hilft, Bekanntes plötzlich anders zu sehen und Unbekanntes zu entdecken. Schlechte Akustik? Gibt es für ihn nicht. Sondern nur den Wunsch herauszufinden, was in welchem Raum klanglich wie funktioniert.
An einem regnerischen Nachmittag in Köln hat sich Rochus Aust einen riesighohen Raum ausgesucht, um einen Eindruck von seiner Kunst zu geben. Einen Raum, in dem alles, was draußen stattfindet, außen vorbleibt: Der Regen genauso wie der Großstadtlärm. Im vierten Stock des Kölner Lutherturms in der Südstadt ist es still, während er mit einer fast sakralen Ernsthaftigkeit erst eine Trompete an dünnen Stahlseilen montiert, dann eine kurze Sequenz spielt – um das Instrument anschließend mit voller Wucht gegen die Betonwände zu schleudern.
Das erinnert an Ben Pattersons heute legendäre Performance, die er 1962 im Wiesbadener Kunstverein zeigte. Damals zerstörte er einen Konzertflügel mit Kettensägen und Vorschlaghammern, während ein anderer darauf spielte – und begründete damit eine neue Kunstform gegen die tradierten Muster des Kulturbetriebs. „Fluxus ist sicherlich eine der interessantesten Möglichkeiten, Kunst zu machen“, sagt Aust dazu, der 1968 in Recklinghausen zur Welt kam, in einem Lehrerelternhaus aufwuchs und eigentlich erst Maler werden wollte. Bis klar wurde, was für ein ausgezeichneter Trompeter er doch ist. Er studierte Musik an der Staatlichen Hochschule für Musik in Trossingen und am Royal College of Music in London, gewann nationale und internationale Wettbewerbe, reiste mit seinen Produktionen in über 25 Länder, spielte für mehr als 50 Radio- und Fernsehsender Aufnahmen ein – und begann, eigene Ensembles zu gründen. Und eigene Standards.
„Weil es für das, was ich tun wollte, keine Repertoires gab, habe ich selbst welche entwickelt“, sagt Aust, der statt auf Notenpapier seine Stücke in Excel komponiert. Sie beschreiben eher Settings, geben Handlungsanweisungen – darin ist Aust seinen Fluxus-Kollegen nicht ganz unähnlich. Auch wenn er sich nicht auf eine Kunstform, eine Zugehörigkeit festlegen will.
Im Turm der Lutherkirche hat er den kleinsten, ganz sicher interessantesten Ausstellungsort für klangbasierte Künste in Köln, vielleicht gar in der Bundesrepublik eingerichtet: das LTK4. Von der Volksgartenstraße geht es zunächst in einen eher schmucklosen, ebenerdigen Raum und über das Atrium der Lutherkirche weiter: visuell, akustisch, künstlerisch. Vor allem: immer hinauf. Vier Räume bespielt er hier regelmäßig mit anderen. In einem lassen winzige Motoren im Bauch von Overheadprojektoren die Plastikverpackungen von Playmobil-Figuren klackern. An winzige Wesen erinnert das, die einem unbekannten Rhythmus verfolgen.
Im Erdgeschoss hat Aust ein knallrotes Mini-Cabrio geparkt. Während des Lockdowns waren regelmäßig Künstler*innen zu Gast, die wie er das Corona-Stipendium des Landes, „Auf geht’s!“, bekommen hatten, um hier ihre (Video-)Arbeiten zu präsentieren. Ganz Corona-konform - durch die ständig geöffneten Türen war das LTK4 quasi Teil des öffentlichen Raums. Und eine permanente Einladung an Künstler*innen, etwa im „Autokino“ weiterhin sichtbar mit den eigenen Arbeiten zu bleiben: Im ebenerdigen Raum wurde einem knallroten Cabrio Kunst gezeigt, konnten Besucher*innen Konzerte hören, die eine Etage über ihnen gespielt wurden. Übertragen von einem Raum in den darunter. Das für Austs wichtigste Element seiner Kunstaktionen aber blieb: alles war live.
Aust macht Alltagsorte zu Bühnen und liebt die direkte Konfrontation: 2017 klingelte er mit einem Klangkoffer bei fremden Leuten an, um ihnen spontan ein Hauskonzert zu geben. Im Gegenzug bat er seine Gastgeber*innen um ein persönliches Stück Musik, einen Klang oder ein Geräusch, aus denen wiederum eine Komposition entstand. Erst vor wenigen Monaten hat er für seine „Telefonkonzerte“ die Auszeichnung für innovative Konzertformate des NRW-Kultursekretariats bekommen. Oft haben seine Projekte mit Mobilität zu tun. Aust hat schon Lichtgeschwindigkeitsbahnen erfunden, Klang-PKWs oder Konzerte in Heißluftballons gegeben. Für seine Installation „Subport Bergkamen (BSP)“ kreierte er eine Klang- und Lichtinszenierung, die einen gewaltigen unterirdischen Flughafen suggerierte. Er liebt Autos, Flugzeuge, Schiffe, Raketen – und Züge: In Scheven hat er sich vor einiger Zeit einen eigenen Bahnhof gekauft. Als Atelier. Und Zwischenhalt für einen, der ständig unterwegs ist. Nicht nur im Kopf.