BühneKinderkram

„Alices Abenteuer im Wunderland“: Musiktheater nach Lewis Carroll

bis 14.05.2024
Lewis Carrolls Kinderbuch-Klassiker „Alices Abenteuer im Wunderland“ hat André Kaczmarczyk fürs Musiktheater adaptiert. Seine „Alice“-Fassung schaut „hinter die Spiegel“.

Das 1865 erschienene Kinderbuch des Mathematikers und Diakons Lewis Carroll besitzt in der englischsprachigen Welt enorme Bekanntheit, kennt zahllose Bearbeitungen und steht nicht erst seit der Me-too-Bewegung im Zwielicht verbotener Lüste und des Lolita-Stigmas.

Alice ist in Carrolls phantastischem Drama des begabten Kindes autonom. Und ist es in André Kaczmarczyks Inszenierung noch viel mehr. Sie behauptet sich als Zentrum ihrer Wünsche, Handlungen und Bedürfnisse. Aber ist auch eine andere Eliza Doolittle, die ihren Higgins / Pygmalion in Lewis Carroll fand, der die Geschichte für Alice Liddell und ihre Schwestern, Töchter des befreundeten Oxforder Dekans, ersonnen und den Mädchen erzählt hat.

Wie er da auf der Bühne liegt, der Träumer! Hingestreckt gleich einem toten Heldenbildnis, selbst eine erotische Wunscherfüllung, aber unerlöst und auch ein verzweifelt von seinen Geistern heimgesuchter Grübler. Träumt er von ihr?

Der Zorn, dass jemand über sie verfügt, begleitet Alice hier bis in die Kakophonie des Finales. Das Geschöpf wird zum Schöpfer und Zerstörer ihrer Welt. Jede Befreiung und hymnische Selbstbehauptung enthält Gewalttätiges.

Alice ist Abenteurerin, Grenzgängerin, Träumerin. Die reale Welt, die den Menschen gemeinsam ist, wird in dem anderen Zustand zu einer ganz und gar individuellen Wirklichkeit. Wobei Traum und Einsamkeit eng zusammengehören und offen bleibt, ob die Verschlusswelt des Traums, durch die Kilian Ponert als tierisch elegantes, elastisches Weißes Kaninchen (und als Lewis Carroll) lotst, eine Welt der Freiheit ist oder deren Kehrseite.

Im Düsseldorfer Schauspielhaus spart diese Phantasie-Welt, die bei Carroll nicht zu lösen ist aus der englischen Mentalität des Satirischen, der Exzentrik, des Spleens, historisierend Possierliches aus und versetzt in einen ambulanten Zustand: einen, der wenig braucht, um zu spielen. Die reine Bühne ist genug: mit ihren Scheinwerfern, Zwischenvorhängen, Prospekten, den Seilen vom Schnürboden, ein paar Requisiten, die klipp-klapp hereinrollen. Eine Tür ist eine Tür ist eine Tür – aber eben auch Mauseloch und Eintritt ins Schattenland, wo die Zeit die Uhren umstellt. Mit dem Wenigen lässt sich alles machen: Schattentheater, Spiegeleffekte, das Farbspektrum ausschöpfen, die Magie von Größenverhältnissen herstellen.

Diese Alice ist zauberisch ballettös, aber nicht nur – sondern bei der fabelhaften Lou Strenger ichbezogen und selbstverloren, früh reif, verstört und aufsässig, „Kleine Tränenfee“, wie eines der Lieder heißt, und große Schwester von Tinker Bell und Andersens Sterntalerkind.

Kaczmarczyk, der seine „Alice“-Fassung klug erweitert und in ihr bis „hinter die Spiegel“ schaut, verschiebt sacht die Sphären, lässt Kontakt zu zwischen der Carroll-Liddell-Realität und dem imaginären „Alice“-Reich: ein Dialog, der den psychischen Konflikt andeutet. Die Finesse und Akkuratesse des Bob Wilson beherrscht auch er und verwandelt sie sich –weniger formell – an. Auch er ein Bildererzähler, der den Schein dem Sein vorzieht; mit Sinn für das winzige Detail und die einzelne Geste, und selbst Schauspieler, der weiß, wie Partnerinnen und Kollegen wirken und sein können. Er lässt sie, ob Mann, ob Frau, erotisch glitzern und bis in die Travestie hinein Stil walten. Die Kostüme mit Fell, Lack und Glamour sind Carnaby Street, knalliger Underground und Voguing-Parcours.

Die Kompositionen von Matts Johan Leenders für kleine Besetzung, darunter Violine und Cello, stimmen leise Töne an. Balladenhaft und zartbesaitet, führen sie die Tradition des romantischen Kunstliedes und der Songwriter fort: die Partitur als zweite Traumspur.

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„Alices Abenteuer im Wunderland“: Musiktheater nach Lewis Carroll

bis 14.05.2024

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