BühneTanz

Tanzabend „Jeanne D'Arc“: Interview mit Lillian Stillwell

bis 10.05.2025
In ihrer Inszenierung erforscht die Tanzdirektorin und Chefchoreografin des Theaters Münster die visionäre Kraft und den unerschütterlichen Glauben der französischen Nationalheldin. Kulturkenner-Autorin Bettina Trouwborst sprach mit Stillwell über die spartenübergreifende Produktion.

Sie war ein Bauernmädchen aus Lothringen zur Zeit des Hundertjährigen Kriegs (1337–1453). Schon als Kind soll Jeanne D'Arc Visionen gehabt haben vom Erzengel Michael, der ihr befahl, die Stadt Orléans von den Engländern zu befreien. Mit 17 Jahren führt das Mädchen als Fahnenträgerin das Lager der Franzosen an. Es gelingt tatsächlich, mit ihrem Enthusiasmus die Stadt zu befreien. Thronfolger Charles VII. wird gekrönt – das Mädchen zwei Jahre später auf Betreiben der Kirche als Hexe verbrannt. Die französische Nationalheilige ist die Protagonistin von Lillian Stillwells neuem Tanzabend mit Opernchor und den Schlagzeugern des Sinfonieorchesters. Darin spürt die Chefin von Tanz Münster der Radikalität der Jungfrau von Orléans und ihrem Vermächtnis nach.

Lillian Stillwell, was fasziniert Sie an der historischen Figur Jeanne D'Arc?
L.S.:
Der Tempel über dem Orakel von Delphi trägt die Inschrift „Gnothi seauton“ – „Werde, wer du bist. Erkenne dich selbst.“ Das sind radikale Gedanken. Jeanne D'Arc – sie war 19 Jahre alt, als sie starb – lebte sie. Sie vertraute und folgte ihren inneren Stimmen, die ihr sagten, wer sie ist, was sie kann, wohin ihr Weg sie führt. Sie hat die Zukunft gesehen. Sie hat Soldaten zum Sieg geführt, für einen König den Thron gewonnen, ihr Land wurde vereint. Als sie zwei Jahre später vor Gericht als politische Gefangene steht, verweigert sie einen Anwalt und spricht für sich selbst. Der Tod war ihr lieber als ein Leben im Gefängnis, getrennt von ihren Stimmen.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, aus dem Stoff einen Tanzabend zu choreografieren?
L.S.:
Die Figur fasziniert mich schon lange. Allerdings hat mich erst die Musik dazu inspiriert, mich dieser mutigen Person zu nähern. Ich habe lange nach Chor- und Schlagzeugstücken gesucht. Es gibt zwei Klangwelten: Gedanken über die Zukunft und die Kraft der inneren Stimme provozieren Beat Furrers „Enigma I-IV und VI“, die auf Leonardo da Vincis „Prophezeiungen“ basieren. Utopische Bilder habe ich in den Melodien von Gene Koshinskys „Song & Dance“ gesehen. Ihnen wollte ich eine choreografische Maschine entgegensetzen, um diese Idylle zu hinterfragen. Steve Reichs „Clapping Music“ bewundere ich einfach: Durch die „einfache“ rhythmische Verschiebung von Klängen schafft er einen dichten Klang.
Wie sieht Ihr Konzept aus?
L.S.:
Ich versuche, mich in diesem interdisziplinären Tanzabend der Energie, dem Geist und dem Vermächtnis von Jeanne D'Arc zu nähern und diese Kernthemen in Bewegung zu fassen. Der Abend setzt auf Reduktion. Im Fokus sind Bewegung, Klang, Licht und das Spiel. Keine historischen Kostüme, keine Schwerter oder Kronen – und die Titelfigur wird nicht verbrannt. Zum ersten Mal in Münster arbeite ich teilweise mit Spitzenschuhen. Sie verleihen Verletzlichkeit, übermenschliche Proportionen und göttliche Virtuosität. Stimmen, Mut, Zukunft sind die treibenden Kräfte, die die Choreografie inspirieren: Wer vertraut seinen inneren Stimmen und setzt sie in die Tat um? Wie stellen sich Individuen gegen externe Kräfte wie Algorithmen, die unsere Gegenwart regeln? Ist Mut Kopfsache? Tanz kann diesen enigmatischen Kräften Form verleihen. Das Schlagzeug ist der Motor, der Kraft gibt, ist Spielpartner, Antagonist im krachenden Höhepunkt.
Welche Funktion hat der Chor?
L.S.:
Er steht für Jeannes Stimmen und agiert wie eine bewegte Architektur. Mal sind es ihre inneren Stimmen, mal die gegen sie gerichteten äußeren Stimmen, mal der kommentierende, kritisierende Chor. Im Gegensatz zum Acapella-Gesang treibt das Schlagzeug Jeanne gnadenlos vor sich her.
Spielt das Stück in die Gegenwart?
L.S.:
Der erste Teil des Abends folgt Jeanne D'Arcs Geschichte bis in ihren Tod. Danach betritt der Tanz eine Zukunft, in der Menschen sich bewegen, als ob sie ein Computerprogramm wären. Der letzte Abschnitt des Stücks spielt in einer ausgebleichten Welt: Zwei Personen schaffen es, wie Jeanne ihre Stimmen aus der Masse zu erheben: Diese „Algorithmus-Choreografie“ ist ein Versuch, sich ein Orakel in einer anorganischen Welt vorzustellen.
Was hat uns die Jungfrau von Orléans heute zu sagen?
L.S.:
Sei furchtlos. Ein Leben kann die Welt verändern. Oder, siehe die Inschrift des Orakels von Delphi...
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bis 10.05.2025

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