Am Beginn signiert Ingrid (die den Vornamen der Bergman trägt, deren Gesicht uns von einem Plakat entgegenblickt) in einer Buchhandlung ihr jüngstes Buch. Durch ein Gespräch erfährt Ingrid von Marthas Krankheit und besucht sie im Manhattan Memorial, ein ums andere Mal, im Krankenzimmer und später in Marthas Wohnung, hinter deren Fenstern die Stadt, die niemals schläft, ihre Lichter entzündet.
So wie Nunez’ literarisch-essayistisch-aphoristisches Schreiben mäandert und Erzählfäden von einem zum nächsten knüpft, konstruiert auch Almodóvar seine filmischen Bauten, die Achsen und Symmetrien aufweisen und scheinbar abgelegene Gelasse integrieren sowie Gänge, die vom Hauptweg abzweigen.
Martha, die Kriegsreporterin, die in Bosnien und im Irak und an weiteren Schauplätzen unterwegs war, führte nun insofern Krieg gegen ihre Krankheit (ihr Gebärmutterkrebs ist nicht operabel, eine weitere Chemotherapie verweigert sie, die Frist rechnet sich auf höchstens ein Jahr), als dass sie der Niederlage zuvorkommen will, aber bei dieser aktiven Intervention nicht allein sein möchte. Sie bat die eine oder andere aus ihrem Kreis um deren Anwesenheit, bevor sie ihre Jugendfreundin Ingrid fragt.
Kein assistierter Suizid, sondern freiwilliger Freundschafts- und Liebesdienst und größtmöglicher Beistand eines Menschen für einen anderen. Niemand einsamer als der- oder diejenige, die lebend zurückbleibt. Jede(r) stirbt für sich allein, aber auch jede(r) lebt für sich allein, die/der solch ein Sterben mitträgt.
Auf Edward Hoppers Gemälde "People in the Sun" von 1960 sitzt eine Gruppe von zwei Frauen und drei Männern auf Liegestühlen, lesend, dösend oder über ein strohgelbes Feld hin auf einen niedrig gestreckten Höhenzug blickend. Die Menschen werfen lange Schatten. Aber die Sonne ist ausgeblendet. Das Bild in einer guten Kopie hängt in dem wunderschön lichten Haus, das Martha für einen Monat gemietet hat und das ihr letzter Ort auf Erden sein wird. Nahe Woodstock, zwei Stunden Autofahrt von New York City, ist es eingebettet in einer Wälderlandschaft und fügt sich, gestuft und geschachtelt zu mehreren kastenartigen Elementen, ganz der hügeligen Umgebung ein. Auf der Terrasse stehen Liegestühle, einer grün, einer rot bezogen. Auf das grüne Polster legt sich Martha zum Sterben, nachdem sie die tödliche Pille eingenommen hat. Sie hat sich geschminkt, die Lippen intensiv rot ausgemalt und in ein gelbes Kostüm gekleidet. Dieses Gelb hat Leuchtkraft wie die Sonne, stärker, als die etwas matt wirkenden Farben auf Hoppers Gemälde. Martha überstrahlt den Tod.
Sobald wir die Innenräume betreten, sind wir in Almodóvars Welt: seinem ästhetischen Kosmos, in dem Farben emotionale Signale aussenden und die gewählten Gegenstände mehr sind als Dekor und Zierrat. Allein die gemalte Wandbespannung neben der Eingangstür zu Marthas Apartment mit dem farbschillernden Motiv einer Vase mit Nelken ist Ausdruck einer Haltung zum Leben, die den Kontrast bildet zu dem, was die Bewohnerin durch die Verheerungen der Kriege abgespeichert hat. Ein Augen- und ein Seelentrost.
Julianne Moore und Tilda Swinton sind ein Geschenk für Almodóvar, ebenso wie der Regisseur ein Geschenk ist für seine Hauptdarstellerinnen und wie uns das Geschenk dieses Zusammenspiels gemacht wird. Swinton, wie sie sich ungeschminkt, mit durchscheinend purem Antlitz zeigt und alle Stadien, die zu ihrem Entschluss führen, verinnerlicht hat und zu vermitteln vermag, so dass sich das Wesen des Menschlichen in ihr kondensiert; Moore, deren lebenswarme Weiblichkeit im Mitleiden, Reflektieren, Zögern, Zustimmen, Abwehren, in Furcht und Gefasstheit lauterste Wahrheit besitzt, auch etwa, wenn sie sich Rat und Unterstützung holt bei ihrer beider ehemaligem Lebensgefährten und Liebhaber Damian (John Turturro). Woran wir hier im Zwischenraum von Leben und Tod teilnehmen, erreicht sonst nur Ingmar Bergman.
Einmal fallen rosa getönte Schneeflocken vom Himmel wie für ein Hollywood-Weihnachtsmärchen. Aber sie verkünden eine andere Botschaft, die sich auflöst, als Martha einige Schlusszeilen aus James Joyces Erzählung "The Dead" rezitiert, was sich nochmals wiederholt, wenn die beiden Frauen sich John Hustons Verfilmung dieser Erzählung anschauen: "Seine Seele schwand langsam, als er den Schnee sachte fallen hörte, dem Herabsinken ihrer letzten Stunde gleich, auf all die Lebenden und Toten."
"The Room Next Door" ist Almodóvars leisester und innigster Film, eine Herbstsonate (auch dank der Musik von Alberto Iglesias); sehr intim und zärtlich und doch von unerbittlicher Härte, mit dem er dem Endgültigen nicht ausweicht, aber es milde umfasst. Nach Marthas Tod gibt es noch ein Verhör, das Ingrid auf dem Polizeirevier durchstehen muss, und in dem sie bedrängt wird von einem vermutlich evangelikalen Officer, der nichts versteht von den großen Fragen und letzten Dingen. Und es erfolgt der Besuch von Marthas Tochter Michelle in dem gläsernen Sterbehaus. Sie hatten eine schwierige Beziehung, die Martha zuvor Ingrid geschildert hatte. Das Kind kannte seinen Vater nicht und verübelte der Mutter, ihn ihr vorenthalten zu haben. Die Geschichte dieses Fred wird – wie noch manch andere Episode, in dem Zufall die Gestalt des Schicksals annimmt – ebenfalls angerissen; er, der aus Vietnam ein Trauma mitbringt und anderswo ein neues Leben beginnt und beim Brand eines fremden, menschenleeren Hauses im Feuer den Tod sucht und findet. Tilda Swinton spielt, verjüngt und brünett, auch Michelle. So schlägt auch eine ungespenstische Geisterstunde, als sie den Platz der Verstorbenen auf der Terrasse im selben Stuhl einnimmt, gekleidet wie die Tote an dem bestimmten Morgen. Ingrid betrachtet Michelle wie eine Erscheinung, die den Schmerz gleichermaßen vergrößert und erträglich macht und um die Einsicht bereichert, dass spirituelle Durchlässigkeit existiert.