Der Roman erzählt nicht nur von "Moby Dick", er ist selbst der Koloss, dessen Oberfläche schon allein unüberschaubar ist, in dessen Eingeweiden sich ein Leser verirrt, dessen Herzensgrund sich kaum ergründen lässt. Das Buch von 1851 greift in seiner Komplexität weit aus und schweift hinüber in den Traktat, Wissenschaftsreport, meereskundlichen Bericht und kulturkritischen Essay – und überhaupt in die nachbarocke Wunderkammer menschlichen Geistes und Strebens.
"Wir alle sehen in den Flüssen und Meeren dasselbe Bild: Es ist das geheimnisvolle Bild des Lebens, das wir nicht fassen können." Oder, anders übersetzt, "das Weltangesicht, das Sinnbild des unfaßbaren Spuk unseres Daseins". Ist es das, was Robert Wilson, den 1941 geborenen Amerikaner aus Texas, am Buch seines Landsmannes aus New York City interessiert, das er im Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert? Der unfaßbare Spuk unseres Daseins, darin die Macht der Natur, menschliche Obsession und das Fatum eine dunkle Rolle spielen?
"Der unsichtbare Beamte vom Geheimdienst des Schicksals", wie es bei Melville heißt, treibt Ismael (Kilian Ponert) zusammen mit seinem Kameraden, dem wilden Südsee-Insulaner Quiqueg, an Bord des Walfängers Pequod, wo Kapitän Ahab, der einst ein Bein im Kampf mit dem weißen Wal verloren hat, auf Rache und Vergeltung sinnt. So sehr und so grauenvoll, dass er dafür alles preisgibt, Schiff, Mannschaft, sein Christentum, sein Leben und seine Seele.
Etwas Entscheidendes noch fügt Wilson, der die Kapitel des Buches lose durchblättert und aus ihnen pittoreske Miniaturen und lebende Silhouetten schneidet, Melville hinzu – eine Traum- und Träumer-Figur: "Cause if I dream it / Maybe it will happen". Deshalb implantiert er der Geschichte eine kindliche Gestalt (vielleicht Enkel des einzig das Unglück überlebenden Ismael), der die ewige Frage stellt, was das ist, ein Ich, wie es sich abgrenzt von einem anderen Ich und ob es sich selbst als einem Fremdling gegenübersteht. In Düsseldorf spielt Christopher Nell diesen immerwährenden Knaben: als Kobold, Zappelphilipp, männliche Soubrette, kommentierend kecken Pausenclown und Alleswisser.
Getöse. Aufruhr des Meeres. Anschwellender Walgesang. So brausend geht es los. Die Songs dazu hat Anna Calvi komponiert, sie werden live gespielt von einer Band unter Dom Bouffard: bisschen Folk und Shantys, vor allem Rock mit viel Schlagwerk.
In Wilsons Theater verbinden sich Körper, Licht, Zeit und Geometrie, und die Gebärde regiert über den sprachlichen Ausdruck. Dem existentiellen Drama von alttestamentarischer Wucht nimmt er seine Schwere, baut es leicht und hebt es in die Höhe wesenlosen Spiels: Akrobaten, Lichtalben und Schattengeschöpfe sind und müssen seine Kunst- und Bühnenmenschen sein. Seemannsgarn verwandelt sich unter seiner Hand in fein gesponnene Seide.
Wilsons weiße Magie, die sich hier auch bearbeiteten historischen Bild- und Filmmaterials von John Huston und Orson Welles bedient und es projiziert, ist noch nicht erschöpft oder hat sich wieder gekräftigt. Rosa Enskat im weißen Mantelgewand mit ihrem vom Wind auf eine Seite hochgekämmten Haarschopf ist als Ahab Spiegelung des Wals und sein ihm gleichender Antagonist. Kein Dämon, sondern eine schräge, ihre Sehnsucht nur durch Negation ausdrückende Diva wie aus einem Film von Robert Aldrich ("Hush, Hush, Sweet Ahab") oder einem Dürrenmatt-Drama. Der körnig grau-weiße Horizont türmt sich mit Wolken und wird von Vögeln bevölkert. Vor dem Himmel die Nussschale eines Boots, am Himmel die Umrisse eines hell erleuchteten Häuschens, dem Nachbau des ältesten Gebäudes von Nantucket.
Das Ballett der Figuren mit gespreizten Händen und maskenhaft geschminkten Gesichtern, die tourette-artig bestimmte Phrasen wiederholen, formt den Sieg über die Mühsal aller Bewegung. So bildet sich die Grazie des Gliedermanns und der Puppe. Das letzte Wort haben nicht Tod und Verderben, ganz wie in Mozarts "Don Giovanni". Bewusstsein schaltet der Regie-Zeremonienmeister Wilson im Dienst seiner ästhetischen Absolutheit aus.