Von hier aus nahm das Kontinente umspannende fotografische Großprojekt von Bernd (1931-2007) und Hilla (1934-2015) Becher seinen Ausgang: dem Siegerland und auch dem Haus, das Bernd Bechers Großvater gebaut hat und das die ledigen Berta und Maria Becher, Schwestern von Bernds Vater Josef, der einen Malerbetrieb hatte, ihr Leben lang bewohnten. Nach deren Tod lebte dort eine Weile auch die Mutter von Hilla Becher. Es zeigt, so sagt es der Verleger Lothar Schirmer, wie „Heimatkunde zur Weltkunst werden kann“.
Bernd Becher hing an dem Haus und kehrte alle sechs bis acht Wochen nach Mudersbach zurück. Jetzt gehört es dem Sohn Max. „Rückzugsort und Ausgangspunkt“, wie Laurenz Berges sagt, seiner künstlerischen Arbeit. Es hat den Impuls mit ausgelöst, um das, was zu verschwinden drohte, zu erfassen. Zunächst mit dem Zeichenstift, dann mit der Kamera, zunächst die Fachwerkarchitektur, dann die Industriebauten. Das Prinzip hat Bernd Becher weitervermittelt an seine Foto-Klasse in der Kunstakademie Düsseldorf.
Eine wundersame Reise zurück, die nicht vom Fleck kommt, ist es, die Ausstellung in Siegen zu betrachten oder das dazu erschienene Katalog-Buch zu durchblättern. Manche der Fotografien wirken fast wie inszenierte bzw. komponierte Stillleben: das Bord mit Honigglas, Madonnenfigur, Kaffeemühle, Glaskaraffe und daneben wie gemalt der Stoffvorhang und der Blick über die Diele die Treppe hinauf, deren Konturen verwischen. Das mehrfach abgelichtete Puzzle, ausgelegt auf einem Tisch, steht nahezu symbolisch für die Welt im Kleinen, die hier Form annimmt.
Der 1966 in Cloppenburg geborene Berges, der auch seine Heimatstadt später, 2019, porträtierte, hat nach einem Kommunikationsdesign-Studium in Essen 1988/89 als Assistent der Fotografin Evelyn Hofer in New York City gearbeitet. Ab 1992 studierte er Fotografie an der Kunstakademie Düsseldorf und wurde dort 1996 Meisterschüler von Bernd Becher. Zu den Arbeiten des in Düsseldorf lebenden Künstlers zählen die Serie ostdeutscher Kasernen (1991-1995), die nach dem Fall der Mauer und dem Ende der UdSSR verlassen worden waren, die Dokumentation von Etzweiler (2005), das dem Braunkohleabbau weichen musste, und Ansichten von "4100 Duisburg" (2020). Berges’ Thema ist die Randzone, sind Leer- und Zwischenzustände, Zeugnisse urbaner Relikte und Echoräume des Verschwundenen und Vergänglichen.
So auch hier in der Serie über das „Halten und Schwinden“, zugleich eine Hommage an seinen Lehrer Bernd Becher und „ein Zeichen von großem Respekt“, wie Berges sagt. Auf eine stille, zurückhaltend noble Weise, wie es Laurenz Berges eigen ist. Im Vorwort zum Katalog verwirft der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil einige Zugangswege zum Kunstwerk und wählt einen eigenen: nicht den kuratorischen, nicht den des Historikers, nicht den feministischen oder einen konzeptuellen Weg. Sondern er bevorzugt für sich – und meint damit auch den Fotografen Berges – den der Kunst, entlang der Maxime: „Halten wir uns doch an das Gegenständliche“.
Bezogen auf den Ort Mudersbach und sein Haus, von denen Berges als Bildergeschichte erzählt, ist wohl das Unveränderliche, Unverrückbare gemeint, das jedoch durch Einflüsse, äußere Bedingungen – Natur, Tageslicht, Dämmerung, Nebel oder Sonnenschein, die Jahreszeiten – sich verändert. Thema und Variation also. Während Berges’ fotografische Serien öffentlicher Räume, die Kasernen oder das Kohleabbau-Gebiet, eher wie ein Niemandsland wirken, spüren wir, dass das Becher-Haus – gerade auch in seiner Enge, dem knapp gehaltenen Sujet, dem deutlich privaten, in sich geschlossenen Kosmos – ein Jemands-Land ist. Es ist gefüllt mit den Spuren seiner Menschen.
Auf den Fotografien sieht es aus, als würde etwas verdunsten, etwas verduften, der Atem der Zeit vielleicht. Einerseits sammelt sich Zeit in den Bildern und hat einen Zustand konserviert, andererseits ist das Empfinden da, dass etwas schwindet, verschwunden ist. Erinnerung aufheben meint ja beides – aufheben im Sinne von aufbewahren und aufheben im Sinne von ‚ich hebe ein Gesetz auf’, also etwas wird für zu Ende erklärt. In dieser Schwebe halten sich die Bilder. Einerseits versiegelte Zeit, zum anderen die Spur ihres Vergehens: als Alterungs- und Vergilbungsvorgang. Minimale Bewegung in der stehenden Zeit. Und genaues Auskundschaften und Zeugnis-Ablegen, von Raum zu Raum, von Ecke zu Ecke: das Mobiliar, Bücher auf den Regalen, Geldstücke, eine Zeitungsseite, das Puzzle – wieder und wieder zu erschauen.
Die Mudersbach-Fotos sind randvoll mit Atmosphäre, sie lassen an Jan Vermeer denken, seine akribische Genauigkeit, nur die Menschen müsste man aus den Zimmern entfernen. Aber ihre Geistererscheinung bleibt zu spüren. Auch Edward Hopper wäre eine Referenz. Und noch eine Verbindung: Haus und Räume erinnern an Edgar Reitz und seine „Heimat“-Serie, an die alte Schmiede der Familie Simon in Schabbach. Auch ein Fachwerkhaus. Für Berges eine frühe Referenz, seit er als Jugendlicher die erste „Heimat“-Serie, wie er sagt, „gefressen“ habe Anfang der achtziger Jahre. Und er merkt an, dass er sich vorstellen könne, dass der Regisseur sich zur Vorbereitung auch mit den Aufnahmen von August Sander beschäftigt habe.
Man denkt wiederum an das Gegenständliche: wie Obst und Gemüse eingemacht wird, die Wäsche gekocht wurde und so weiter. Während unsere eigenen Kindheitserinnerungen oft ambivalent sind, scheint das Gefühl für das Gewesene in dem Haus auf rührende, herzinnige Weise ungebrochen zu sein. Das Haus ist in sich stimmig. Nichts stört den Eindruck. Das Haus hat auf gleichmütige und gemütvolle Weise der Zeit getrotzt.