
Tom Tykwers Film „Das Licht“, der die jüngste Berlinale eröffnete und nun in den Kinos angelaufen ist, erinnert in manchem an Pier Pasolinis Film „Teorema – Geometrie der Liebe“ (1968). In Pasolinis Film kommt ein junger Mann, „Gast“ genannt, in eine Mailänder Industriellen-Familie, zerstört deren bürgerliche Fassaden und erweckt jedes der Mitglieder auf je unterschiedliche Weise und bringt deren bisheriges Leben an ein Ende. Der katholische Marxist Pasolini mit seinem auch erotischen Faible für den proletarischen Ragazzo brachte Klassenverhältnisse ins Wanken. Die Erzählung, die Figurenkonstellation, auch das Thesenhafte der Parabel, diesen Elementen begegnet man nun auch bei Tom Tykwer.
Man wird „Das Licht“ demnächst zu der Handvoll Berlin-Filmen zählen, die auch einen gesellschaftlichen Befund erheben, ein Zeitbild bzw. selbst ein „Geschichtszeichen“ (Helmut Lethen) bedeuten. Filme wie Fritz Langs „M“, der 1931 ein Koordinatennetz über die Metropole warf und ein Menetekel kommenden Unheils darstellt; Wim Wenders, der 1987 mit „Der Himmel über Berlin“ auf immer die geteilte Stadt und die Brache des Potsdamer Platzes als Irrtum ins Bild gefasst hat. Schließlich Tykwer selbst, der zehn Jahre später in „Lola rennt“ die Euphorie und das Chaos des Aufbruchs collagiert und sich bis heute in seiner laufenden Serie „Babylon Berlin“ wiederum rückwärts auch auf Fritz Lang bezieht.
Seit „Lola rennt“ haben wir uns ein Vierteljahrhundert voran bewegt. Berlin ist ein Feuchtgebiet und symbolisiert witterungsmäßig, wenn man es biblisch will, die nahende Sintflut, den Untergang, menschliches Verschulden. „Totentanz“ steht einmal irgendwo über einer Straße oder dem Autobahnring auf Beton geschrieben. Every day no future. Es regnet und regnet und regnet ohne Unterlass, als würde die Gegenwart vom Science-Fiction der Zukunft aufgeweicht. Tom Tykwer zahlt nicht mit kleiner Münze, sondern packt ganz groß aus und an.

„Wir sind eine typische deutsche dysfunktionale Familie“: So hören wir von einem ihrer vier Mitglieder über die Engels’, darin ebenfalls noch namentlich das unirdische Wenders-Personal der männlichen Götterboten Damiel und Cassiel anklingt. Gehobener Mittelstand, dezent wohlstandsverwahrlost und emotional gestört. Wie kein anderer Schauspieler kann Lars Eidinger die Weichheit und Jämmerlichkeit dieses Typus Mann verkörpern, dessen Konturen und Wesen zu zerschmelzen scheinen, als seien sie aus Butter. Ehestreitereien und Sinnfragen zwischen Milena (Nicolette Krebitz), die sich für Afrika engagiert, und dem Werbeagentur-Fritzen und PR-Consulter Tim Engels sowie Sich-Ausklinken der Teenager Frieda (Elke Biesendorfer), einer Umweltaktivistin, und Jon (Julius Gause), dem Computerspieler, aus dem bröselnden Zusammenhalt.
Dieses Vakuum füllt die neue Haushälterin, die Syrerin Farrah (Tala Al-Deen), ausgestattet mit übersinnlichen Kräften, einem therapeutischen Instrumentarium und eigener Schicksalslast. Dass ihr die Funktion der nicht nur bewusstseinsverändernden Lichtbringerin zufällt, vermittelt – wie bei dem Bildermacher und Cineasten Tykwer nicht anders zu erwarten – die Eröffnungs-Kamerafahrt beeindruckend und angemessen grandios. Was folgt, ist eine Erlösungsphantasie, sind Handreichungen für die Seele. Und ein bisschen Abrakadabra für Akademiker.
Aber, auch das ist wahr, der fast dreistündige Film tanzt, fliegt und singt, u.a. nach dem leitmotivisch eingesetzten Queen-Evergreen „Bohemian Rhapsody“, stürzt sich Hals über Kopf in die Abenteuer des Auges und schlägt technische und optische Kapriolen, als wäre Berlin Teil von La La Land. Der Zauber jedoch hält nicht vor.
So wie Milena im Staatsdienst der Entwicklungshilfe steht, ist der Akut-Romantiker Tykwer als Entwicklungshelfer am Werk, um unser Herz und Hirn zu ‚bestrahlen’ und sich der Problemfelder Klima- und Zukunftskrise, Migration, Globalisierung, Alterung der Gesellschaft anzunehmen. Auch in seinen Tiefsinns-Bohrungen ist er dem Geist von Wim Wenders nahe. Beiden tut das für ihre Filmerzählungen nicht gut. Beide retten sich daraus mit ihrer visuellen Kraft, die sich über das Schwere zu erheben vermag und falsche Erhabenheit aufhebt – leicht wie Licht.
„Das Licht“, Regie: Tom Tykwer, D 2025, 162 Min.