Bühne

Mit dem Theaterpreis "Der Faust" ausgezeichnet: VR-Theaterfilm „Die Wand (360°)"

bis 20.06.2024
In Marlen Haushofers Roman steckt eine Frau plötzlich hinter einer unüberwindbaren Wand fest. Thomas Krupa hat die beklemmende Geschichte fürs Schauspiel Essen umgesetzt - wir haben die 360-Grad-Inszenierung mit VR-Brille getestet.

Nach „Der Reichsbürger“ inszeniert Thomas Krupa zum zweiten Mal einen Virtual Reality-Theaterfilm am Schauspiel Essen. Diesmal: Marlen Haushofers 1963 veröffentlichten Roman „Die Wand“, eine eigenwillig-beklemmende Geschichte, die in den 1980er Jahren von der Frauenbewegung und als Bild der atomaren Bedrohung wiederentdeckt wurde. In der Corona-Krise spielten viele Theater eine Bühnenversion der Geschichte dieser „Wand“, die plötzlich da ist, durchsichtig, aber undurchdringlich, unüberwindbar. Und von der Frau, die plötzlich feststeckt hinter dieser Wand, in einer Jagdhütte im Wald.

In Krupas VR-Film blicken wir in ein schickes Tiny House, viel Holz, minimalistisch eingerichtet, große Fensterscheiben, Hochebene fürs Bett, Klettergriffe an der Wand, Siri antwortet aus der Smart-Home-Anlage. Mal beobachten wir durch die VR-Brille die Frau von oben, mal schauen wir von innen nach außen, mal stehen wir vor dem Haus im Wald. Die Perspektive wechselt, die Sicht bleibt eingeschränkt. Für anderthalb Stunden verharren wir mit der Frau in der Enge, in die sie über Nacht gezwungen wurde, getrennt vom Rest der Welt. Ganz nah sind wir ihr, berührend unangenehm.

Sie richtet sich ein in diesem neuen Leben mit Hund und Kuh, schaut Videos, schießt Rehe, legt sich einen Kartoffelacker an, näht sich eine Wunde, zieht sich einen schmerzenden Zahn. Wir sind dabei, Furcht und Mitleid in 360 Grad. Sie zieht uns mit in die Angstlust des Alleinseins. Schauspielerin Floriane Kleinpaß gibt der Frau diese fast unerschütterliche Ruhe, die auch beim Lesen des Romans beeindruckt. Manchmal ist sie dem Wahnsinn nah, bleibt aber produktiv Handelnde. Es ist, als beschwichtigten sie ihre eigenen Worte, mit denen sie auch uns an ihren Gedanken teilhaben lässt. Kleinpaß spricht gedämpft, fast meditativ, mit jedem Wort reflektiert sie die Situation.

Was genau passiert ist, bleibt unsicher. Eine Klimakatastrophe? Das Ende der Zivilisation? Hin und wieder schauen wir auf die andere Seite, fahren mit der Kamera durch eine tote Gegend, zwischen grauen Gebäuden hindurch, wie von Christo mit Vorhängen abgehängt, ein steinernes Nichts gespickt mit eingefrorenen menschlichen Wesen. Krupa verstärkt noch Haushofers Naturbetrachtung. Irgendwann sehen und hören wir das Wetter nicht mehr bloß hinter der Scheibe, das Haus wird überwuchert, Pflanzen wachsen innen wie außen, es tropft und trieft. »Aber ich war kälter als der Wind und fror nicht«, sagt die Frau. Die Glasscheiben braucht’s nicht mehr, alles Leben drängt jetzt ineinander. Und durchs zerstörte Dach sehen wir den Sternenhimmel.

Auch diesmal erschafft Krupa – zusammen mit VR-Artist Tobias Bieseke – einen anderen Theaterraum, einen, der einem auf die Pelle rückt, bewegend und bedrohlich, weil er keinen Schutzraum bietet, solange man die VR-Brille trägt. Diese Eins-zu-Eins-Erfahrung eignet sich hervorragend für Haushofers Geschichte.

Die VR-Brillen werden leider nur im Essener Stadtgebiet geliefert.

Bühne

Mit dem Theaterpreis "Der Faust" ausgezeichnet: VR-Theaterfilm „Die Wand (360°)"

bis 20.06.2024

Mehr Kultur aus NRW mit unserem Newsletter

Kulturkenner patternKulturkenner pattern