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Im Sommer 2024 ist die Philharmonie Essen 20 geworden. Was hat ihre Intendantin künftig vor? Ein Gespräch mit Marie Babette Nierenz über Herbert Grönemeyer für alle und eine Prozession mit Saxophon.
Im Juni 2024 ist die Philharmonie Essen 20 geworden. Gab es etwas, das Sie bei den Feierlichkeiten mit Zeitzeugen überrascht hat?
Nierenz:
Ja! Es gab damals einen Ratsbeschluss für einen anderen Standort, der durch ein Bürgerbegehren gekippt wurde. Mit fast 90.000 Unterschriften hatten die Bürger*innen für den Erhalt des Saalbaus an seinem historisch gewachsenen Ort im Stadtgarten gestimmt. Dieses Haus ruht also auf den Schultern der Essener Bürgerinnen und Bürger.
Was tun Sie, damit die Philharmonie ein Ort für alle ist?
Nierenz:
Ich möchte, dass jede*r hier einen Herzensort findet – durch das Programm oder die eigene Mitwirkung. Da ist zum einen die künstlerische Exzellenz, die uns als Philharmonie ausmacht. Hier treten die besten Künstler*innen aus der ganzen Welt auf. Dabei denken wir immer die Vielfalt mit. Das Programm reicht von den großen internationalen Orchestern über die schönsten Stimmen, Solisten, Künstler*innen der Jazzszene, Weltmusik, bis hin zur Popmusik, zu Crossover-Formaten. Vielfalt heißt aber auch Vielfalt in der Nutzung: Kongresse, Tagungen, Vermietung jedweden Genres, für Laien, für Profis, kommerzielle Veranstaltungen. Ich bin überzeugt davon, dass sich die Vielfalt der Stadt im Programm widerspiegeln muss. Wichtig ist die bürgerliche Teilhabe, durch Projekte, bei denen Amateure zu Künstler*innen auf der Bühne werden. Wir haben groß angelegte Schulprojekte. Wir hatten einen großen Geigengipfel mit Daniel Hope mit Kindern oder eine Saxophonprozession mit über 50 Amateuren.
Und wer nicht selbst mitmachen möchte, aber für die Exzellenz vielleicht nicht das Geld hat?
Nierenz:
Partizipation heißt natürlich auch soziale Partizipation, nämlich Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an dem Programm der Philharmonie, die sich dieses nicht leisten könnten oder nicht so im Fokus haben, dass das ihr Haus ist. Ich nenne als Beispiel Herbert Grönemeyer, der hier im Jahr 2025 als Dirigent und Sänger auftritt. Mit Förderung der RAG-Stiftung ist möglich, dass wir 200 Kinder und Jugendliche aus dem gesamten Ruhrgebiet in die Konzerte einladen. Ich bin sehr dankbar, dass so viele Türen in der Stadt Essen weit aufgehen, sowohl von politischer Seite, aber auch von den Firmen, von den Unternehmen, von den Stiftungen, mit denen wir diese Projekte hier realisieren können.
Musik
Philharmonie Essen
In direkter Nachbarschaft zum Aalto-Theater am südlichen Rand der Essener Innenstadt gelegen, hat die Philharmonie Essen regelmäßig berühmte Dirigenten, Orchester und Solisten zu Gast. Hier geht's zu unserem Porträt.
Für all das muss man aber ja diese Hemmschwelle überwinden, ins Haus zu kommen, was manchen Leuten vielleicht schon schwer fällt.
Nierenz:
Für alle, die noch nicht zu uns kommen, haben wir in diesem Jahr die Reihe "Philharmonie vor Ort", neu entwickelt. Wir gehen mit Musikstudierenden in soziale Zentren der Stadt: zum Beispiel ins Jugendzentrum, in die Flüchtlingsunterkunft, die Palliativstation. So bekommen die Studierenden Musikpraxis, dadurch, dass sie viele Konzerte in kurzer Zeit an mitunter herausfordernden Orten spielen. Und die Menschen vor Ort, die aus monetären, sozialen, gesundheitlichen oder kulturellen Gründen nicht in die Philharmonie kommen, erfahren, dass es eine Philharmonie gibt, die auch für sie da ist. Dasselbe passiert schon seit 9 Jahren mit unserem großen Kindergartenprojekt "Musik kommt um die Ecke". Das starteten wir 2015, fremdfinanziert durch Stiftungen. Jetzt hat erstmals die Alfred-Krupp-und-Friedrich-Alfred-Krupp-Stiftung der Stadt Essen ermöglicht, dass wir dieses Projekt ausweiten über drei Jahre und dreimal so viele Kitas erreichen können, wie vorher. Dieses musikalische Engagement wirkt vor Ort, in den Stadtteilen wo Kinder sonst wenig Kontakt zu klassischer Musik haben. Über die Kinder erreichen wir wieder die Eltern, und die Philharmonie strahlt auch auf diese Art in die Stadt Essen aus.
Sie sind seit jetzt einer Spielzeit Intendantin der Philharmonie Essen. Was haben Sie noch anders gemacht?
Nieren:
Tatsächlich habe ich die Angebote zur Partizipation ausgeweitet und gemeinsam mit verschiedenen Stiftungen entwickelt. Außerdem entwickeln wir jede Spielzeit auch neue künstlerische Formate. Diese sind inspiriert durch Komponistenjubiläen, oder auch durch politische Themen, wie in unserer Weltmusikserie „womens voice“. In der Spielzeit 2024/25 werden wir internationale Künstlerinnen präsentieren, die auch für die Rechte der Frauen in ihrem Land ihre Stimme erheben. Mit unserer Portraitkünstlerin Patricia Kopatchinskaja haben wir zum ersten Mal nach einem Konzert ein Abendessen im Foyer mit den Künstler*innen für das Publikum angeboten – das war eine wunderschöne Begegnung. Wir greifen vielfach Impulse auf und entwickeln daraus neue Formate mit den Künstler*innen für das Publikum, die auch unglaublich gut angenommen werden. Da ist der Besucher nicht getrennt vom Künstler. Man erlebt im Konzert die Übertragung der Energie zwischen Künstler und Publikum, und wir möchten zusätzlich durch Gesprächsformate und partizipative Formate die Grenzen so aufzuheben, dass zwischen Publikum und Künstler ein Miteinander entsteht.
Worauf freuen Sie sich am meisten in der kommenden Spielzeit?
Nierenz:
Ein großes Glück für mich ist, dass wir in einer Saison die Wiener Philharmoniker und die Berliner Philharmoniker begrüßen dürfen. Ein zweites, dass wir den Stardirigenten Klaus Mäkelä als Portraitkünstler gewinnen konnten. Er wird ab der Spielzeit 2027/28 sowohl der neue Chefdirigent des Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam, als auch des Chicago Symphony Orchestra sein. Hier in der Philharmonie wird er zu drei Konzerten und noch einem Kammermusikkonzert zu Hause sein.
Marie Babette Nierenz ist seit der Spielzeit 2023/24 Intendantin der Philharmonie Essen. Sie war bereits 2003 im Gründungsteam zur Wiedereröffnung der Philharmonie Essen, zunächst im Künstlerischen Betriebsbüro, dann als Leiterin der Programmplanung und seit dem Jahr 2013 als Künstlerische Leiterin der Philharmonie.