Am Samstagmittag strömt ein tönender Menschenzug über die Düsseldorfer Königsallee. Der Beat eines eigentümlichen Elektroschlagzeugs wummert betörend über den Bürgersteig. Monotone Synthi-Rhythmen begleiten den robotergleichen Gesang. Die kleine Boom-Box zieht die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich. „Das Model“ der Düsseldorfer Elektropioniere Kraftwerk klingt heraus und bringt die Menschen in Bewegung. Auch Dr. Michael Wenzel, der den Lautsprecher hoch in die Luft hält, wippt mit dem Fuß. Der Guide führt 25 Klangforscher*innen auf der „The Sound of Düsseldorf“-Tour zu den musikgeschichtlichen Schmelztiegeln in der Altstadt, in der sich mehrere Generationen von Musiker*innen über Jahrzehnte zu einer Kunstszene verbanden.
„Kraftwerk waren Ihrer Zeit immer weit voraus“, erklärt Sven-André Dreyer an einer der über 15 Stationen des knapp dreistündigen Rundgangs. Der Journalist und zweite Tour-Guide zeigt auf eine ikonische Fotografie der Elektro-Combo, die Alben wie „Trans Europa Express“, „Die Mensch-Maschine“ oder „Computerwelt“ schufen. Dann schließt er mit einer Anekdote aus den frühen 80er-Jahren an: In der Geschichte trifft die Gruppe um Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben im Traditionsclub „Checkers“ im KÖ-Center auf die Düsseldorfer DJ-Legende Jimmy Radant. Dieser spielt amerikanische Cover und Samples der Kraftwerk-Songs. Eine Überraschung – selbst für die aufstrebenden Stars, wie Dreyer weiß. Die Tour-Gemeinschaft lauscht ihrem Reiseführer gespannt…
Drei Klangkorridore für die Wehrhahn-Linie
Namen von international einflussreichen Krautrock-Gruppen wie „Neu!“ fallen. Im Fluss der Erzählungen ergänzen historische Labelbezeichnungen und Ortsnamen das bunte Geschichten-Ensemble. Zu gefühlt jeder Düsseldorfer Combo und ihrem Einflussgebiet hat das Journalisten-Duo etwas zu berichten, egal ob es sich um die Oi-Punker Broilers, die Industrial- und EBM-Band „Krupps“ oder die Neue Deutsche Welle-Künstler „Rheingold“ handelt. Rund 60 Jahre Musikgeschichte brechen Dreyer und Wenzel auf ihre Essenz herunter und zeigen die Verbindungen zwischen den einflussreichsten Drahtziehern auf. Den Stoff dazu haben sie aus der Recherche für ihr Buch „Keine Atempause“, auf dem der gehaltvolle Rundgang fußt.
Zuallererst geht es am Ausgangspunkt Dreischeibenhaus um die Gruppe La Düsseldorf. Sie hat sich für ihr selbstbetiteltes Album im Jahr 1976 vor der 26-geschossigen Hochhausikone ablichten lassen. Dann ist der Besitzer eines Plattenladens vor dem Kö-Bogen Gesprächsthema. Er stellte jungen Punkbands wie „Male“ seinen Keller als Proberaum zur Verfügung. Auch ein Exkurs zur Wehrhahn-Linie bleibt in Düsseldorf natürlich nicht aus. Die Reisenden erfahren, wie der Künstler Ralf Brög für die U-Bahn-Station Heinrich-Heine-Allee die drei Klangkorridore „Theater“, „Labor“ und „Auditorium“ konzipierte.
Ein unvergesslicher Konzertabend mit den Toten Hosen
An bedeutenden Epizentren der Musikkunst legen Sven-André Dreyer und Michael Wenzel mit der Gruppe einen längeren Stopp ein: Vor dem Salon des Amateurs oder dem ehemaligen Lokal Creamcheese geht es den Experten darum, die Verbindung einzelner Musiker*innen zur Düsseldorfer Kunstszene und der nahegelegenen Kunstakademie herauszuarbeiten. Joseph Beuys, Günther Uecker und Anatol Herzfeld nahmen hier Einfluss. „Das Credo war ganz klar. Wer Teil der Szene sein möchte, muss mitmachen“, erklärt Wenzel vor dem Ratinger Hof – der Wiege des deutschen Punks.
Danach macht der Menschenzug erneut einige Kilometer. Die Teilnehmenden laufen über gefüllte Straßen, schauen in Hinterhöfe und bestaunen Klingelschilder. Sie folgen der Boom-Box, die an vorderster Front den Ton wie die Richtung vorgibt. „Die Guides sind wandelnde Musiklexika“, staunt Johannes Mouseck. Der Hildener läuft bereits zum zweiten Mal bei der „The Sound of Düsseldorf“-Tour mit und möchte sich sein Exemplar von „Keine Atempause“ signieren lassen. Seine Frau und ein befreundetes Paar begleiten den Musikfan. Auch heute wird er nicht enttäuscht. In der Schneider-Wibbel-Gasse wartet eine Überraschung auf ihn.
Dort steht plötzlich Ingo Forsthofer vor der Reisegruppe. Der Mitbegründer des Düsseldorfer Indie- und Elektro-Duos RVDIANT verlässt gerade seine Haustür, als er spontan zu einem munteren Plausch überredet wird. Natürlich hat der Musiker auch eine Geschichte im Gepäck, die er vor dem abschließenden Tourenende am Mannesmannufer zum Besten geben kann.
Zum 30-jährigen Bestehen der Toten Hosen gewann Ingo einen unvergesslichen Konzertabend mit den Punklegenden in seinem Wohnzimmer. Seine Bewerbung für den Gig der „Magical Mystery Tour“ wurde unter 4500 Einsendungen gezogen. Campino und Band schauten spontan vorbei, 50 eingeladene Gäste kamen und verwandelten die Wohnung in eine glühende Tanzfläche. Gesangseinlagen vom Fenstersims, Fortuna-Jubelrufe, Pogo, Crowdsurfen und Altbierflecken an der Decke inklusive. Letztere sind heute noch zu sehen, wie der Location-Steller mit einem breiten Grinsen hervorhebt.
Text und Foto: Maximilian Hulisz/Tourismus NRW
Für Daheimgebliebene oder Interessierte, die sich noch weiter mit der Materie rund um die Düsseldorfer Soundlabore auseinandersetzen möchten, gibt es sechs virtuelle Multimedia-Stories, die im Rahmen einer virtuellen Ausstellung auf Google Arts & Culture entstanden sind. Sie geben Einblicke in die kreative Szene, die sich über die Jahrzehnte in der Rheinmetropole formierte. Nutzer*innen können sich etwa auf historische Fotos, klickbare Ortsansichten und Musikvideos freuen, wenn sie die virtuelle Musikwelt erkunden. Die Exponate haben die Touren-Guides Sven-André Dreyer und Dr. Michael Wenzel für das Online-Erlebnis kuratiert.
Oder natürlich einfach das passende Buch zur Hand nehmen:
Sven-André Dreyers und Michael Wenzels Buch über Musik aus Düsseldorf, "Kein Atempause", ist im Droste-Verlag erschienen (192 Seiten, 25 Euro).