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Beim Wege-Projekt 2022 hatte das Film-Duo loekenfranke eine eigene Route entwickelt. Ein Gespräch über verborgene Seiten des Ruhrgebiets und ornithologische Besonderheiten.
Ihr Weg führte vom Gelsenkirchener Hauptbahnhof zu PACT Zollverein – und warf in sogenannten „Naturbüros“ einen ornithologischen Blick auf die Ruhrgebietslandschaft: Über Audiofiles konnten Festivalbesucher*innen mehr über die Beziehung zwischen Menschen, Vögeln und Natur erfahren. kulturkenner.de hat den beiden Dokumentarfilmer*innen Ulrike Franke und Michael Loeken drei Fragen zu ihrem Konzept gestellt.
Wie sind Sie auf die Idee zu den „Naturbüros“ gekommen?
Ulrike Franke:
Wir haben uns in unseren Dokumentarfilmen schön häufiger mit der Natur des Ruhrgebiets beschäftigt. Als wir die Strecke zwischen Gelsenkirchen Hauptbahnhof und PACT Zollverein dann das erste Mal abgefahren sind, war schnell klar, dass wir uns wieder mit diesem Thema befassen möchten. Die Strecke erzählt auf einer relativ kurzen Distanz sehr viel über die Region. Sie führt durch alte Zechensiedlungen, Schrebergärten, Parks und städtische Gegenden, deren Besonderheiten man im Alltag häufig gar nicht wahrnimmt.
Michael Loeken:
Vor allem die Vogelwelt ist sehr faszinierend. Sie kann uns viel über uns selbst und unsere eigenen Lebensbedingungen erzählen. Die Vögel halten uns gewissermaßen den Spiegel vor.
Worauf deutet die Bezeichnung „Büro“ hin?
Ulrike Franke:
Wir möchten Orte der Konzentration erzeugen. An jeder einzelnen Station kann man sich niederlassen und auf die Natur fokussieren – ganz so als würde man im Büro sitzen und sich ernsthaft mit einer Arbeit beschäftigen. Wir möchten dazu einladen, die Natur ganz bewusst wahrzunehmen.
Was gibt es an den einzelnen Stationen zu entdecken?
Ulrike Franke:
Wir starten im Stadtpark Gelsenkirchen an einem Denkmal für die Opfer der NS-Diktatur. Hier, an diesem Ort der Ruhe, werden Briefe vorgelesen, die Rosa Luxemburg im Gefängnis verfasst hat. Sie schreibt über die Natur, die ihr in der Einsamkeit der Gefangenschaft begegnet: Die Sonnenstrahlen, die durch das vergitterte Fenster scheinen, das Vogelgezwitscher im Gefängnishof. Wir möchten zeigen, wie sehr der Mensch die Verbindung zur Natur sucht und braucht. Selbst dann, wenn sie sehr weit weg ist.
Michael Loeken:
Anschließend führt unser Weg zum Revierpark Gelsenkirchen. Dort steht ein kleiner Tisch mit der nächsten Audiostation, bei der es um Vogelstimmen geht. Wer nichts darüber weiß, hört meistens nur eine Kakophonie an verschiedenen Pieps-Tönen. Aber Vogelstimmen sind sehr verschiedenen, es gibt Warnrufe, Lockrufe – und jede Vogelart verständigt sich auf unterschiedliche Art und Weise. Wir möchten diese Komplexität einfangen und dazu anregen, sie besser zu verstehen. Denn je mehr man über die Natur weiß, umso mehr kann man sie respektieren.
Ulrike Franke::
Danach geht es zu einer wunderschönen Zechensiedlung. Dort ist es eine dadaistische Sound-Collage zu hören, in der alte Zechennamen wie „Nachtigall“ oder „Turteltaube“ mit verschiedenen Vogelstimmen kombiniert werden. So lassen wir eine verschwundene Welt akustisch wieder aufleben. Ein kleines Stück weiter befindet sich eine wild gewachsene Schrebergartenanlage, wo Amseln, Rotkehlchen und viele andere Vogelarten leben. Hier beschäftigen wir uns mit dem Thema Nestbau – und mit der Bedeutung eines Zuhauses auch für uns Menschen.
Michael Loeken:
Die nächste Station steht an einem Taubenzuchtverein in dessen Nähe sich auch Greifvögel niedergelassen haben. In diesem Naturbüro geht es um die Unterschiedlichkeit unserer Liebe zu den Vögeln. Ein paar Meter weiter befindet sich ein verborgenener Weg an einer Bahnstrecke. Am Rand wachsen viele Pflanzen wild durcheinander, ein dichtes Gestrüpp aus Büschen und Bäumen. Früher standen hier Ziegeleien. Die feuchte Erde hat viele Schwalben angelockt. Als die Ziegeleien verschwanden, verschwanden auch die Schwalben. Dafür haben sich hier viele Spechte niedergelassen. Diese Hörstation handelt vom Kommen und Gehen der Vögel - und kann uns vielleicht auch etwas über Migration erzählen.
Ulrike Franke:
Die Tour endet an PACT Zollverein. Auf dem Gelände stehen große Skulpturen von gelben Kanarienvögeln. An einem von ihnen haben wir das letzte Naturbüro aufgebaut. Dort geht es um die Signale, die Vögel uns senden. Kanarienvögel sollten die Bergarbeiter im Schacht ja vor Gefahren warnen. Uns geht es um die Frage, was Vögel uns heute noch mitteilen können. Vielleicht warnen sie uns ja immer noch, aber wir verstehen sie nicht mehr.