Dabei kann das auf viereineinhalb Wochen verdichtete Programm über einen Etat von rund 17 Millionen Euro verfügen. Ivo Van Hove will zeigen, dass das Engagierte und das Exquisite zusammenpassen, dass Luxus und Leiden nicht im Widerspruch stehen und dass sich Mondänes im Sinne von Welthaltigkeit erwarten lässt.
„I want absolute beauty“, die Eröffnungsproduktion in der Jahrhunderthalle (16. August), setzt im Titel bereits ein Statement. Die Musiktheater-Premiere, die Van Hove selbst inszeniert, stellt Sandra Hüller ins Zentrum. Sie interpretiert Lieder der Sängerin und Songwriterin PJ Harvey, zieht ihnen eine hochemotionale Handlungslinie ein und verfolgt darauf den eigenen Lebensweg, wachsendes Bewusstsein und autonome Selbst(er)findung von Station zu Station, von Hindernissen zum Ziel; unterstützt wird sie vom choreografischen Künster*innen-Trio (LA)HORDE mit Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel, die das Ballet National de Marseille leiten.
Schon dieses Projekt vermittelt Ivo Van Hoves Impuls, dass „Sehnsucht“ nicht nur zu verstehen sei als rückwärtsgerichtet, sondern sich aufs Morgen beziehe und an die Zukunft wende. Der neue Intendant, der bei der Programmvorstellung erzählte, dass er seit 2002 Besucher des NRW-Festivals gewesen sei und danach fünf Inszenierungen für die Ruhrtriennale beigesteuert habe, will die Hallen „zelebrieren“, wobei das Musiktheater im Zentrum steht, freilich weit gefasst, spartenübergreifend und Pop und Rock integrierend. Thematische Koordinaten bilden unser Verhältnis zur Natur und zur Gewalt.
Barock, Broadway, Rave sind drei Stichworte zu „The Faggots and their Friends between Revolutions“ (nach Larry Mitchells Roman). Das wilde, erotische, freisinnige Spektakel von Philip Venables und Ted Huffman, das über Gender- und Genregrenzen hinweg tanzt und musiziert, sei „eine Ode an die Gewaltlosigkeit“ und atme den Geist der sanften Revolution, verspricht der Intendant.
Gegenläufiges und scheinbar Auseinanderstrebendes zusammenbringen bzw. zusammenhören wird die Uraufführung von „Abendzauber“, bei der der Spätromantiker Anton Bruckner auf die isländische Sirene Björk trifft, unterstützt vom Chorwerk Ruhr und eingerichtet von Krystian Lada (der auch Programmdirektor des Festivals ist) als immersive Installation in der Mischanlnage der Kokerei Zollverein. Die Begegnung von Natur und Industrialisierung stellt gewissermaßen auch die ökologische Gewissensfrage angesichts der Klimakrise. So wie die begehbare Installation „City of Refugue“ von Berlinde de Bruyckere in der Turbinenhalle wiederum die Dualität der menschlichen Natur untersucht und zur Empathie aufruft.
Edvard Griegs einziger Liederzyklus „Haugtussa“ beschäftigt sich mit der gleichnamigen Heldin aus den Gedichten des Norwegers Arne Garborg von 1885, die die menschliche Gemeinschaft flieht und ihr Anderssein schmerzlich durchlebt. Das Norwegische Nationaltheater und Regisseurin Eline Arbo kooperieren hierbei mit der Ruhrtriennale und setzen die Transgression einer Frau mit der „Energie eines Rockkonzerts“ (Ivo Van Hove) um.
Aus Basel wiederum galoppiert das Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ nach Eugène Labiches Posse herbei, dem die doppelten Herberts die Sporen geben: Herbert Fritsch als Regisseur und Herbert Grönemeyer als Komponist. Ein Heimspiel! „Bérénice“, die Tragödie von Racine, als Solo-Monolog für Isabelle Huppert, inszeniert von Romeo Castellucci, kommt aus Paris. Ein Hochamt der Schauspielkunst.
„Ich werde mich mit Liebe an der Welt rächen“, lautet ein Satz des revolutionären Filmerneuerers und visuellen Pioniers aus Georgien, Sergey Parajanov (1924-1990). Seine Filme revitalisieren Erzählungen aus dem Kaukasus und benachbarten Regionen bis hin zur Ukraine. Kirill Serebrennikov inszeniert unter dem Titel „Legende“ eine Theaterfantasie nach Motiven aus Parajanovs Kosmos (es spielt das Ensemble des Hamburger Thalia Theaters).
Nun zum Tanz, der sechs Produktionen beisteuert. Die Frage kann nicht heißen: „Why?“, denn der Tanz gehört seit Beginn zum Programm des NRW-Festivals. Mit der frei nach Hamlet gestellten Frage „Why / Warum?“ befasst sich die Choreografie „Y“ von Anne Teresa De Keersmaeker, die exklusiv für das und im Folkwang Museum entsteht und sich im Dialog mit dem Haus und seinen malerischen Werken zwischen Figuration und Abstraktion bewegt. Die schillernde, aus dem sozialen Randbezirk stammende Ballroom-Szene von New York wird in Gestalt von Georgina Philp vorgestellt, bekannt als „Legendary Trailblazer European Mother Leo St. Laurent“. Sie performt in der Jahrhunderthalle und lässt auf dem Runway die Fetzen fliegen, die allerdings fantastische Roben sind.
Abwechslungsreich besetzt auch die zur Festivaltradition gehörende Konzert-Sparte: Alyona Alyona, die ukrainische Rapperin, die ihr Land auch beim Eurovision Song Contest vertritt, tritt ebenso auf wie der Pianist und Komponist Nils Frahm, der Chor Georgian Voices aus Tiflis und ein Ensemble aus Los Angeles, das sich spezialisiert hat auf den 1990 gestorbenen, fast vergessenen homosexuellen Afroamerikaner und Minimal-Music-Komponisten Julius Eastman.
Hinzu kommen Aufführungen der Jungen Triennale, von Urbane Künste Ruhr, Film, Talks, Workshops, Performances für Kinder und Familien sowie eine Reihe zur Gegenwartsliteratur. Ivo Van Hove und sein Team haben ein ambitioniertes Programm aufgelegt, in dem Glamour und das Leuchten aus dem Dunkel des Außenseiterraums sich funkelnd verbinden und einen Begriff von Kunst und Künstlertum propagieren, dem Protest, Grenzüberschreitung, Reibung, Innovation und Vision eigen sind. Viele „Brave New Voices“, um den Titel des Literaturprogramms zu benutzen, für das unter anderem Edouard Louis und Jeremy O. Harris eingeladen wurden. Sie gastieren im neuen Festivalzentrum, das rund um den Wasserturm der Bochumer Jahrhunderthalle als Piazza entsteht, entworfen vom belgischen Architekten Olivier Goethals.