"Noch bin ich in der Zugabe" – Wolfgang Niedecken im Interview

Musik
Wenn ein Künstler hierzulande unverwüstlich genannt werden darf, dann er: Wolfgang Niedecken. Der Chef der kölschen Band BAP schaffte es, den Mundart-Rock salonfähig zu machen. Ein Interview zu seinem 70. Geburtstag.

Seit den 70er Jahren singt er nicht nur über die Liebe, sondern gegen Dinge an, die politisch und gesellschaftlich in die falsche Richtung, oft nach rechts, laufen. Er macht solo Musik. Er stellte als bildender Künstler in den wichtigsten Galerien und Museen des Landes aus. Er überlebte einen Schlaganfall.

Jetzt wird er 70 und veröffentlicht weiter wie ein Wahnsinniger: eine Geburtstagsedition des aktuellen BAP-Albums „Alles fließt“ mit Schätzchen aus dem Band-Archiv. Ein Buch in der beliebten Reihe der Kiwi-Musikbibliothek über sein ewiges Idol Bob Dylan. Und eine Sonderedition („70 Jahre“) der beiden Teile seiner Autobiografie „Für ne Moment“ und „Zugabe“ mit neuem Vorwort (Hoffmann und Campe).

Keine Frage, dass das ein Gespräch wert ist über Nostalgie, den Lernprozess des Künstlers bei Interviews, die Ausstattung des eigenen Arbeitszimmers als Herzkammer der Niedecken’schen Kreativität – und die „ahl Frau Herrmanns“ natürlich, die tatsächlich die als ausgezählt erachtete BAP-Geschichte nochmal neu ordnete.

Ich genieße das Hier und Jetzt.
Wolfgang Niedecken
Herr Niedecken, am 30. März werden Sie 70…
WN:
… und entsprechend habe ich derzeit viel zu tun. Viel Arbeit. Viele Interviews. Viel Hektik.
Die Hektik machen Sie sich doch selbst, wenn Sie gleich mit neuer Platte und zwei Büchern feiern.
WN:
Was soll ich tun? Meine Geburtstage waren für mich zwar immer schon unwesentlicher als für alle anderen. Aber jeder Geburtstag ist nunmal auf einen bestimmten Tag im Jahr festgelegt. Und wenn du 70 wirst, dann hängen sich eben alle besonders dran. Sprich: Dann kannst du gleich die nächste Runde Promo machen. Es sei denn, du sagst: „Ihr könnt mich alle mal.“ Aber das tue ich ja nicht.
Es ist zum Verrücktwerden.
WN:
Naja: Wenn ich jetzt von morgens bis abends erklären müsste, was der Name „BAP“ bedeutet und wieso ich auf Kölsch singe, würde ich wirklich wahnsinnig.
Sowas kommt nach all den Jahren noch vor?
WN:
Das tut es. Aber das sind glücklicherweise eher die Fragen, die mir irgendwelchen armen Praktikanten in der Provinz stellen. Allerdings bin ich am Ende doch immer gnädig. Ausgerastet bin ich noch nie. Ich habe meinem Gegenüber eher geholfen in solchen Situationen. Wenn jemand etwa vor lauter Nervosität vergessen hatte, das Aufnahmegerät anzumachen. „Oh, wir müssen das leider wiederholen.“ Dann habe ich tief Luft geholt. „Okay, komm‘ dann machen wir das nochmal.“
Wie behalten Sie in derlei Situationen die Ruhe?
WN:
Ich sage mir immer: „Wolfgang, das könnte auch eines deiner eigenen Kinder sein. Und dann würdest du auch wollen, dass deren Gegenüber gnädig ist.“ Außerdem lernt man im Laufe der Jahre auch dazu. Beispielsweise, mit Fragen des Boulevards umzugehen. Oder mit Leuten, die dich nach einem Interview in die Pfanne hauen, indem sie Zitate aus dem Zusammenhang reißen. Diesbezüglich habe ich seit jeher ein Elefantengedächtnis. Sprich: So was gelingt niemandem zweimal.
Kommen wir noch einmal auf Ihren Ehrentag zu sprechen: In fünf Jahren werden Sie 75. Das ist noch spezieller, weil es ein wirkliches Jubiläum ist. Aber schon jetzt gibt es als Geschenk an Ihre Fans eine üppige Tonträger-Box, die unter anderem einige noch nie veröffentlichte Lieder enthält. Mit Verlaub: Sowas geht bei anderen Musikern ja schon als Abschiedsgeschenk durch. Da hätten Sie doch gleich bis 2026 warten können, oder?
WN:
Nein, nein. Noch bin ich in der Zugabe. Mir ist natürlich schon klar: Irgendwann zwischen 70 und 80 geht es in die Auslaufrille. Mal schauen… Aber derzeit haben wir ja erstmal Corona und müssen alles verschieben. Und aus dieser Situation heraus kam auch die Idee zu dieser Box: Ich wollte irgendetwas machen, wenn ich schon nicht wie geplant mit einem Konzert in der Kölnarena feiern kann.
Sie könnten das Konzert im Internet geben.
WN:
Nein. Das ist mir zu halbgar. Ich funktioniere nur mit Publikum. Alles andere ist wie Squash: Allein gegen die Wand.
Einer der neuen, alten Songs in der Geburtstagsbox ist „Leev Frau Herrmanns“. Auf den ersten Blick ein unscheinbares Stück Musik. Aber: Mit dem schreiben Sie nach Jahrzehnten tatsächlich die Geschichte ihrer Band nochmal um.
WN:
Richtig. Darin geht es um die alte Frau Herrmanns, die ihr Leben lang immer auf der Kirmes in ihrer Bude gestanden hat. Die hatte ich während meines Zivildienstes in einer Altentagesstätte wiedergetroffen, und weil sie da auch ihren Geburtstag feierte, habe ich ihr dieses Lied geschrieben. Ich hatte den Text daheim archiviert. Und irgendwann tauchte er auf und ich schaute mir – entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, nicht allzu viel mit Mathematik in Berührung zu kommen – die beiden Zahlen an, die in der ersten Strophe vorkommen. „93 Johr un immer noch klor. Sick 1883 es die ahl Frau Herrmanns do.“ Und, siehe da: wenn man die addiert, kommt man auf 1976. Ich weiß aber ganz genau, dass ich „Helfe kann dir keiner“, das bisher als unser ältestes Stück galt, erst 1977 geschrieben habe. Mit anderen Worten: Das ist der erste BAP-Song! Ein Song, den wir nie aufgenommen und immer vernachlässigt haben.
Wie kann das passieren?
WN:
Nun: Man spielt als junger Typ beim Auftritt im Jugendzentrum oder beim Kneipengig nunmal kein Geburtstagsständchen für eine 93-jährige Oma.
Wo befindet sich Ihr ganz persönliches BAP-Archiv, in dem auch „Leev Frau Herrmanns“ schlummerte?
WN:
Hier in meinem Arbeitszimmer.
Beschreiben Sie das bitte einmal.
WN:
Als wir hierhergezogen sind, in dieses Haus mit Rheinblick und Sicht auf die Poller Wiesen, da war es wichtig, dass ich eine eigene Etage für meine Arbeit bekomme. Und die habe ich jetzt. Mit vier Zimmern. Das ist genau der Ort, den ich brauche, um in Ruhe arbeiten zu können. Früher, im alten Haus, konnten mir meine damals noch kleinen Mädels überall hin folgen. „Papa, arbeitest Du noch?“ Das war mitunter ziemlich anstrengend. Hier kann ich auch mal eine Tür zu machen.
Was ist der älteste Gegenstand, der dort zu finden ist?
WN:
Ich habe hier den alten Chippendale-Tisch, an dem damals in meinem Elternhaus alles stattfand. Den hat mir meine Mutter vererbt. Über den gibt es ja sogar ein BAP-Lied – und er ist auf dem Cover unserer Platte „Zwesche Salzjebäck un Bier“ abgebildet. Und dann steht hier noch eine Musikbox aus den fünfziger Jahren. Da sind noch meine ersten Beatles-Singles drin. Die ist wunderschön, müsste aber mal repariert werden. Aber dafür suche ich noch jemanden. Allein: Die ist so schwer. Die hier aus dem dritten Stock runterzutragen: Das machst du nicht mal gerade. Also: Ich auf jeden Fall nicht.
Viele Ihrer Songs – alte wie neue – sind retrospektiv. Sind Sie eigentlich ein nostalgischer Mensch?
WN:
Nein. Ich definiere Nostalgie als Sucht nach der Vergangenheit. Und so bin ich ganz und gar nicht. Ich bin sehr zufrieden, wie sich mein Leben in diesen jetzt sieben Jahrzehnten entwickelt hat. Und ich genieße das Hier und Jetzt. Zum Beispiel, dass ich im vergangenen Jahr Doppel-Großvater geworden bin: Am 6. März wurde mein Enkel Noah geboren. Neun Tage zuvor mein Enkel Quinn. Das sind wunderbare Erlebnisse. Was so ein kleiner Menschen einem nochmal für eine unglaubliche Kraft geben kann! Das fühlt sich nochmal anders an, als bei den eigenen Kindern!

Eine Geburtstagsedition und eine Autobiografie - hier gibt es noch mehr Wolfgang Niedecken:

Aus Anlass seines 70. Geburtstages und ob der Tatsache, dass er aufgrund des Pandemie-Lockdowns kein Konzert geben kann, hat sich BAP-Chef Wolfgang Niedecken dazu entschlossen, eine „Geburtstagsedition“ des aktuellen Albums seiner Band zu veröffentlichen. Diese besondere Auflage von „Alles fließt“, das 2020 herauskam, enthält neben einigen Accessoires (Aufkleber, Bilder, üppiges Booklet) eine zusätzliche Platte mit dem Namen „Sibbe Köpp, veezehn Häng“, auf der das erstmals aufgenommene erste BAP-Stück überhaupt, „Leev Frau Herrmanns“, sowie drei weitere Song-Raritäten aus Niedeckens Archiv enthalten sind. Hinzu kommt eine „Behind The Scenes“-DVD. Die limitierte Geburtstagsedition gibt es als Vinyl- und als CD-Version. Im bandeigenen Shop wird zudem eine Auflage mit von Niedecken signierten Kunstdrucken angeboten.   

Parallel zur Platte veröffentlicht der Verlag Hoffmann und Campe die beiden Teile von Wolfgang Niedeckens Autobiografie – „Für ne Moment“ und „Zugabe“ – erstmals in einem Band („Wolfgang Niedecken – 70 Jahre“) und mit neuem Vorwort (29,90 Euro). 

In der Reihe „Musikbibliothek“ des KiWi-Verlages wiederum ist ein Buch Wolfgang Niedeckens über seinen Lieblingskünstler Bob Dylan erschienen. Im Rahmen von „Musikbibliothek“ schreiben Prominente über ihre Idole, unter anderem erschienen bereits Bände über Die Toten Hosen (von Thees Uhlmann), Nick Cave (Tino Hanekamp) und Depeche Mode (Markus Kavka) (10 Euro). 

Weitere Infos zu BAP gibt es hier

Interview
Frank Weiffen

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