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Orte und Zeiten
Vom Punk-Leben auf der Kölner Domplatte bis zur Jugend im Schatten des Tagebaus - unsere Buchtipps für den Frühling.
1. Vom Festhalten und Loslassen: "Das Schwarz an den Händen meines Vaters" von Lena Schätte

Lena Schätte erzählt in ihrem Roman "Das Schwarz an den Händen meines Vaters" von einer Kindheit im Schatten des Alkoholismus. In klaren, knappen Sätzen beschreibt ihre Ich-Erzählerin, wie sehr die Sucht das Leben ihrer Familie bestimmt – und wie selbstverständlich Alkohol zum Alltag gehört: nach Feierabend, auf dem Schützenfest, bei Familienfeiern. Der Vater trinkt, spielt, arbeitet – und nennt seine Tochter liebevoll "Motte". Doch das Kind wächst auf mit ständiger Sorge: Kommt der Vater heil nach Hause? In welchem Zustand wird er sein? Zwischen Abstürzen und Ausbrüchen gibt es trotzdem immer wieder Momente der Nähe: "Unter dem Tisch verhaken mein Vater und ich unsere kleinen Finger. Wir tun so, als sei das alles nie passiert."
Schätte schildert eine Kindheit voller Widersprüche – von Angst, Verantwortung und Zusammenhalt, von Zärtlichkeit und Schmerz. Und sie zeigt, wie sich Sucht in Familien weiter fortschreiben kann: Auch die Erzählerin wird später mit Alkoholproblemen kämpfen. "Das Schwarz an den Händen meines Vaters" ist ein berührendes Buch, das Leser*innen von der ersten Seite an mitnimmt – intensiv, nahbar und authentisch. Nicht zuletzt, weil die Autorin aus Lüdenscheid als gelernte Psychiatriekrankenschwester bis heute suchtkranke Menschen begleitet.
"Das Schwarz an den Händen meines Vaters" ist bei Fischer erschienen. 192 Seiten. ISBN: 978-3-10-397657-1
2. Eine Jugend im Ausnahmezustand: "Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und Jagen Sachen in die Luft" von Fiona Sironic

Die in Neuss geborene Autorin Fiona Sironic entwirft in ihrem Debütroman eine beklemmende Zukunftsvision — eine Welt, in der Artensterben, Waldbrände und Klimakatastrophen längst Teil des Alltags sind. Mittendrin: die 15-jährige Era, die mit ihrer Kamera das Verschwinden der Vögel dokumentiert. Während sie versucht, Erinnerungen zu bewahren, geht der Blick ihrer Freundin Maja in eine andere Richtung: Als Tochter zweier Momfluencerinnen hat sie ihre Kindheit im Netz verbracht — und will nun alles auslöschen, was davon geblieben ist. Gemeinsam ziehen die beiden Mädchen durch einen bedrohlich glühenden Sommer und suchen Halt im Chaos. Fiona Sironic erzählt von Freundschaft, erster Liebe und der Angst, alles zu verlieren. "Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft" ist eine eindringliche, dichte Geschichte, die sich immer weiter zuspitzt. Ein spannendes Debüt über das Aufwachsen in einer Welt zwischen Content-Manager*innen und ökologischer Katastrophe.
"Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft" ist bei Ecco erschienen. 208 Seiten. ISBN: 978-3-7530-0106-7
3. Eine Brüdergeschichte: "Die Einmaligkeit des Lebens" von Willi Achten

Im Mittelpunkt von Willi Achtens Roman "Die Einmaligkeit des Lebens" stehen Simon und Vinzenz, zwei Brüder aus einem Dorf im Rheinland. Schon auf den ersten Seiten wird klar: Vinzenz ist schwer krank. Während Simon seinen Bruder in dieser schweren Zeit begleitet und versucht, für ihn da zu sein, erzählt der Roman in Rückblenden von ihrer gemeinsamen Jugend in den 1980er-Jahren. Einer Zeit, in der es umgekehrt war: Vinzenz war es, der Simon in vielen Situationen schützte.
Es sind Erinnerungen an Obstwiesen, Fahrradtouren und kleine Streiche — an eine Jugend, in der das größte Problem oft der Blödsinn war, den man gemacht hatte. Vor der Kulisse eines vom Braunkohleabbau bedrohten Dorfes entfaltet Willi Achten ein dichtes Bild vom Aufwachsen auf dem Land. Von Familie, Verlust und den großen Veränderungen, die sich langsam in das Leben einschreiben.
Dreißig Jahre später stehen die Brüder vor einer anderen Herausforderung. Krankenhausflure, Arztgespräche — eine Welt, in die sie unvorbereitet hineingeraten, während draußen der Alltag einfach weiterläuft. "Die Einmaligkeit des Lebens ist" ein Roman über die Liebe zu einem Menschen, der immer da war. Ein Roman, der spürbar macht, wie schwer es ist, loszulassen — und wie kostbar die Erinnerungen sind, die bleiben.
"Die Einmaligkeit des Lebens" ist bei Piper erschienen. 224 Seiten. ISBN: 978-3-492-07285-4
4. Wenn Gedichte trösten: "Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken" von Sarah Lorenz

"Ich war neun Jahre alt, als die Zeit der Geborgenheit, warum auch immer, ein endgültiges Ende fand und ich zu frieren begann.“ In ihrem Debütroman erzählt Sarah Lorenz von einer Jugend, in der Zuhause kein Ort ist, sondern etwas, das gesucht, verloren und manchmal für kurze Zeit gefunden wird. Erzählerin Elisa blickt zurück auf ihre Jugend in Köln. Ihre Erinnerungen richten sich an Mascha Kaléko — deren Gedichte ihr Wegbegleiter sind und deren Sprache ihr Trost gibt in einem Leben, das früh aus der Spur gerät. Elisa streift durch die Stadt, lebt zeitweise auf der Domplatte, taucht ein in die Welt der besetzten Häuser und autonomen Zentren. Sie begegnet Männern, die bleiben, und vielen, die es nicht tun. Es geht um Drogen, um Abtreibung, um Fluchtversuche — vor Einsamkeit, vor Verlusten. Und immer wieder um die Frage, wo ein Zuhause sein kann, wenn es keinen festen Ort mehr dafür gibt. "Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken" ist ein poetischer und schonungsloser Roman über das Aufwachsen am Rand der Gesellschaft. Und über eine junge Frau, die sich schreibend erinnert.
"Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken" ist bei Rowohlt erschienen. 224 Seiten. ISBN: 978-3-498-00699-0