Im Porträt: Die Regisseurin Mirjam Schmuck

Bühne
Künstlerin und Mutter sein, das ist für Mirjam Schmuck kein Widerspruch. Die Theatermacherin und Mitgründerin des kainkollektivs arbeitet seit Jahren daran, die Strukturen der freien Theaterszene zu verändern. Sie kämpft für ein Theater, das die Kunst und das alltägliche Leben derer, die sie erschaffen, wechselseitig befruchtet.

Es ist ein milder, leicht verhangener Frühsommertag. Wie geschaffen für Spaziergänge im Park, Radtouren oder auch für Proben für ein Theaterprojekt, das hier in dem Halbrund vor dem Ringlokschuppen Ruhr ein paar Wochen später seine Open-Air-Premiere erleben wird. An diesem Morgen probt die Regisseurin und Musikerin Mirjam Schmuck alleine mit der Tänzerin Catherine Jodoin.

Die beiden Künstlerinnen haben sich aufgrund des Lockdowns seit Monaten nicht mehr an einem Ort getroffen. Es ist die erste Probe, die nicht online im Videochat stattfindet. Trotzdem gibt es keinerlei Fremdheit, kein Zögern. Die hochschwangere Mirjam Schmuck, die 2004 zusammen mit ihrem Mann Fabian Lettow das kainkollektiv gegründet hat, und Catherine Jodoin verstehen sich beinahe ohne Worte. Während der Probe beobachtet Schmuck die Bewegungen der Tänzerin genau, um ihr später ihr Feedback zu geben. Dabei geht es aber nie darum, Jodoin in eine Richtung zu drängen. Im Gegenteil, sie lässt der Tänzerin jede Freiheit und macht sie so zur Co-Autorin der geprobten Szenen.

Später in der großen, mit Plakaten der Berliner Volksbühne dekorierten Bochumer Wohnung, in der Mirjam Schmuck mit Fabian Lettow und ihren Kindern lebt, sprechen wir über diese Form des Arbeitens, die in dem im Sommer 2020 Online uraufgeführten »Gaia-Projekt« einen Höhepunkt gefunden hat. Bei dieser Inszenierung, die wie so viele Arbeiten des kainkollektivs Tanz und Schauspiel, Medienkunst und Musik vereint, hat Schmuck nur mit weiblichen Künstlerinnen zusammengearbeitet. So ist ein Raum entstanden, der ihr und ihren internationalen Kollaborateurinnen die Möglichkeit gibt, ansonsten verdrängte oder gar stigmatisierte Fragen nach dem Verhältnis von Kunst und Mutterschaft vorurteilsfrei zu verfolgen.

Wie hat sich das künstlerische Arbeiten in den Zeiten der Pandemie verändert?
MS:
Für mich ist in dieser Zeit die Arbeit oder die Form, wie wir arbeiten, noch persönlicher und direkter geworden. Da ich nicht ständig auf Proben bin, entsteht in den Momenten, in denen wir zusammenkommen, sofort eine größere Nähe. Deswegen habe ich das Gefühl, dass wir in dem Künstler*innen-Kreis, in dem wir arbeiten, gerade eine große Öffnung für persönliche Themen, persönliche Erfahrungen, erleben.
Schlägt sich diese Entwicklung auch konkret in Ihren Inszenierungen nieder?
MS:
Ich glaube, im vergangenen Jahr musste man immer, wenn man Kunst oder Theater macht, sagen, warum man das gerade macht. Mein persönlicher Einsatz muss sichtbar sein. Alles andere ist für mich gerade undenkbar.
Von dieser Hinwendung zum Persönlichen zeugt auch das »Gaia-Projekt«, das seine Uraufführung während des ersten Lockdowns online erlebt hat.
MS:
Das stimmt. Mit dem »Gaia-Projekt«, bei dem ich nur mit Künstlerinnen zusammengearbeitet habe, konnten wir uns der Frage zuwenden, wie funktioniert es, mich parallel als Künstlerin und als Mutter zu identifizieren. Und das, ohne auf das eine oder andere reduziert zu werden und ohne das Klischee, dass man als Künstlerin nicht genug Zeit für seine Kinder habe. Insofern war diese Inszenierung ein sehr wichtiges Projekt, um darüber zu reden, wie sehen wir heute Sorgearbeit.
Hat sich für Sie etwas in Ihrer künstlerischen Arbeit verändert, als Sie vor einigen Jahren erstmals Mutter geworden sind?
MS:
Natürlich. Da hat sich mein ganzes Leben verändert. Es geht auch nicht anders, weil sich der Körper verändert. Durch die Schwangerschaft verändert sich die Körpermitte, und das wirkt sich ganz konkret auf die Zusammenarbeiten mit Tänzer*innen und Schauspieler*innen aus. Zugleich ist aber noch etwas anderes passiert. Ich habe angefangen, die Kulturpolitik anders zu hinterfragen. Wie sieht es mit Reisekosten aus, wenn wir reisen und die Kinder auch einen Flug brauchen? Wie ist es mit den Kosten für einen Babysitter, können die im Finanzplan abgerechnet werden?
Und wie familienfreundlich sind die Strukturen in der Theaterszene?
MS:
: In der Freien Szene sind diese Diskussionen erst einmal leichter zu führen. Wir haben einfach die Möglichkeit, mehr Freiheiten zu setzen. Bei uns können Kinder das Theater während der Proben betreten. Das ist an Stadttheatern teilweise anders. Deswegen hat das kainkollektiv auch so viele Familien in seinem Ensemble.
Was bedeutet das konkret für die Arbeit?
MS:
Wir haben nach einer Form des Arbeitens gesucht, die familienfreundlicher ist. Deswegen legen wir unsere Projekte langfristig an, also auch über Jahre, und proben eher wochenweise, anstatt acht Wochen am Stück.
Haben sich Ihre Projekte durch Ihre Erfahrungen als Mutter auch inhaltlich verändert?
MS:
Das ist genau die Frage der Relevanz. Wenn ich meine Zeit mit Arbeit und nicht mit meinen Kindern verbringe, dann möchte ich mich mit Themen beschäftigen, für die ich gerade brenne und die mir besonders wichtig sind. Auf der anderen Seite glaube ich auch, ohne meine Arbeit wäre ich keine gute Mutter. Beides bedingt sich in einem hohen Maß. Das ist mir und den anderen Künstlerinnen bei der Arbeit am »Gaia-Projekt« bewusst geworden. Wir sind durch die Mutterschaft in unserer künstlerischen Arbeit viel effektiver, viel präziser geworden. Ich würde sogar sagen, wir sind als Mütter bessere Künstlerinnen geworden.
Hat mit dem »Gaia-Projekt« noch einmal eine neue Phase in Ihrem Schaffen begonnen?
MS:
Ich würde eher sagen, mit dem »Gaia-Projekt« ist eine neue Linie hinzugekommen. Ich wollte einen Empowerment Space für mich schaffen, in dem ich all diese Fragen, die mich als Mutter und Künstlerin beschäftigen, loswerden und mit Gleichgesinnten arbeiten kann. Einen Raum, in dem ich auch mit denen sprechen kann, die sich bewusst gegen Kinder entschieden haben. Denn die müssen sich auch immer rechtfertigen.
Haben Sie schon eine Vorstellung, wie sich dieser Empowerment Space weiterentwickeln wird?
MS:
Das Stipendium des Landes NRW ermöglicht es mir, mit der rein weiblichen Gruppe, die sich für das »Gaia-Projekt« zusammengefunden hat, weiter zu forschen und zu erproben, wie wir die Erfahrungen des Lockdowns in die Theaterräume tragen können. Wir wissen nun, wie wertvoll dieser Empowerment Space für uns ist und wollen ihn schützen. Deswegen nimmt die Arbeit mit weiblichen Künstlerinnen gerade einen großen Stellenwert bei mir ein. Sie ist für mich zu einem wichtigen, schützenswerten Raum geworden, den ich nach »Gaia« nicht mehr so schnell aufgeben werde.
Arbeitet es sich in diesem Empowerment Space anders als bei Projekten mit einem Ensemble, das weibliche und männliche Künstler*innen vereint?
MS:
Es gibt eine größere Sicherheit in diesem Raum. Es gibt die Sicherheit, dass ich nach drei Nächten, in denen die Kinder gefiebert haben und keiner richtig geschlafen hat, zur Probe komme und keiner von mir erwartet, dass ich total auf den Punkt bin. Das Wissen, dass so etwas vollkommen in Ordnung ist und ich keine Ausreden erfinden muss, warum ich gerade nicht perfekt vorbereitet bin, ist ein großer Gewinn. In dem Empowerment Space, den ich mit »Gaia« für mich und die anderen gefunden habe, ist es selbstverständlich, dass das Leben Drumherum nicht abgeschaltet wird, wenn ich zu einer Probe komme. Das gibt einem eine Sicherheit, die wiederum eine ungeheure Energie zum Arbeiten freisetzt. Ich bin in diesem Raum ganz bei mir.
Was bedeutet das für Ihr Arbeiten als Regisseurin?
MS:
Mirjam Schmuck: Etwas in meiner Haltung hat sich verändert. Bei dieser Form des Arbeitens lasse ich viel mehr Chaos zu. Ich gebe mehr Kontrolle ab und lasse jede so sein, wie sie ist, weil ich nicht bewerten will, ob und warum jemand vielleicht einen schlechten Tag hat. Dieser Kontrollverlust ist etwas Positives und macht die Arbeit anders und – ich würde sagen – besser.
Text und Interview
Sascha Westphal
Fotos/Video
Markus J. Feger

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