Theater in Schnipseln. Kulturelles Gedächtnis, fragmentarisch. Theatergeschichte in Theatergeschichten. Das ist die Methode, von Fortuna prinzipienlos gemischt. Tusch und Trommelwirbel. So fängt es jedes Mal aufs Neue an. Theater ist eben auch zirzensisch.
Nein, es ist nicht der alte Krapp, sondern der junge Kaczmarczyk. Und auch nicht nur „Schachtel 3, Spule 5“, wie sie der einsame, erinnerungsschwere Solist in Samuel Becketts Monodrama „Das letzte Band“ hervorkramt und einlegt, sondern ein ganzer Haufen Material, zumeist aus den Jahren ab 1970 und doch auch manches aus der Zeit davor, also vor dem Umzug des Düsseldorfer Schauspielhauses an seine jetzige Adresse, dem Gustaf-Gründgens-Platz.
Einen Müllcontainer voll von Magnettonbändern, sogenannten „Vorstellungsbändern“, hatte André Kaczmarczyk nahe des Bühneneingangs, gewissermaßen im Vorübergehen, auf seinem Weg zur Probe gesehen. Das war vor einem Jahr. Das Archivmaterial sollte entsorgt werden, weil es aus Platzgründen nicht länger zu bewahren war, auch brandgefährlich ist und es für den Betrieb zu zeitintensiv gewesen wäre, es zu sichten und umzukopieren. Einen Teil hat der Schauspieler sich geschnappt und die Vernichtung verhindert. Statt der Löschtaste wird beim https://www.dhaus.de/blog/dradio-lost-and-sound/ nun die Aufnahme- und Play-Taste gedrückt. Jede Woche aufs Neue.
In der ersten Folge unterhalten sich Kaczmarczyk und die Dramaturgin Janine Ortiz über den Archivbestand und wie es zu der wundersamen Errettung kam. Vieles davon, damals im analogen Verfahren produziert und manuell zu bedienen, enthält klassische Theatersounds und atmosphärische Geräusche. Da gewittert es also, Winde jachtern, Kirchenglocken läuten und ein Totenglöcklein bimmelt, eine Zugansage wird durchgegeben, es zwitschert und wispert, lacht und muht.
Zu den Fund-, Kunst- und Kabinettstückchen, fast möchte man sagen, zu den Schellackschätzchen, gehören indes auch wahre Trouvaillen: Mitschnitte von Aufführungen, Proben, komplette Szenen und Akten, Matineen, Reden. Wir belauschen eine nahezu soubrettenhaft tirilierte „Amphitryon“-Szene aus den Fünfzigern zwischen Alkmene und ihrer Amme und Dienerin Charis, letztere gespielt von Maria Alex, die noch hochbetagt als Doyenne dem Haus angehören sollte. Oder werden von Jacques Offenbachs „Pariser Leben“, inszeniert 1978, mit einer delikaten musikalischen Kostümfrage konfrontiert: „Ihre Naht ist hinten aufgeplatzt“.
Was ist Erinnerung – etwas, das einem verloren gegangen ist, oder etwas, das sich einem bewahrt? In dieses schwebende Verhältnis gebracht, hören wir den Stimmen zu: dem Flüchtigen und den Flüchtigen, denn nicht von ungefähr hießen die Theaterleute einst fahrendes Volk. Das Fluide und wie es sich fixiert hat auf eine Weise, die ja doch gleichermaßen lebendig und tot ist, habe ihn „berührt“, sagt André Kaczmarczyk. Auch dabei gilt: Verwandlung ist das Stichwort. Von einer Substanz in eine andere Materialität.
Doch die Stimmen aus dem Jenseits, sie können auch ganz diesseitig, greifbar und hochpräsent sein – das werden wir in der zweiten Folge, dem „Fall Marinelli“, über Lessings Drama „Emilia Galotti“, den Regisseur Werner Schroeter und über und von Herbert Fritsch erfahren.
Fritsch war während der Intendanz von Volker Canaris in Düsseldorf engagiert, ging in den frühen 90er Jahren an Frank Castorfs Volksbühne und wurde zum Star, bevor er vor 13 Jahren zur Regie wechselte und dies seither mit fulminantem Erfolg von Berlin und Hamburg bis Wien und Zürich tut. Doch angesprochen auf seine Berufsbezeichnung sagt der Risiko-Künstler, Kaskadeur und Katastrophen-Komödiant Fritsch: „In allem, was ich tue, bin ich Schauspieler. Mit allem, was ich in die Hand kriege, spiele ich. – Wenn man 100 Prozent spielt, ist man unverletzlich. Dann passiert alles von allein.“
Lessings bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ schnurrte 1991 im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspiels bei Werner Schroeter mit der Mechanik eines Uhrwerks ab und in sprachlich rasanter Präzision, wie wir in Passagen aus dem Fünften Akt hören. Dieses brillante Exekutieren des Dramas und Textes in zwei hals- und zungenbrecherischen Stunden – Herbert Fritsch, der den Marchese Marinelli spielte, nennt es „Seiltanz“ – habe ihn für seine eigene Inszenierungsarbeit inspiriert. Auch als Erfahrung, wie Grenzen gerissen werden, hinter denen sich das Extrem auftut.
Intelligent philosophiert Fritsch über Distanz, Kontrolle und Ekstase und über die „Gratwanderung von Tragödie und Komödie“, auf der „Emilia Galotti“ balanciert, die Fritsch später selbst in Oberhausen inszeniert hat. In beiden Genres sei das Scheitern eingebaut, das sich mal in Tod und Schmerz hüllt und mal als Witz maskiert. Lachen gibt es hier wie dort: ins Heitere erlöst oder als Höllengelächter.
