Neuerdings ist der Pionier der elektronischen Musik (1928–2007) sogar zum Comic-Helden avanciert – dank der Graphic Novel „Stockhausen – der Mann, der vom Sirius kam“. Die Gewissheit, mit der Stockhausen 1998 den weiteren Verlauf seines Lebens als Komponist im Detail darlegte, hat nachhaltig irritiert. Nach Werken über das Jahr, die Monate und die sieben Wochentage wollte er zunächst jede Stunde des Tages musikalisieren, dann die Minuten und schließlich, als letztes Werk, eine einzelne Sekunde. 512 Einzelmomente würde er für die Dauer eines kurzen Augenblicks dann übereinander schichten. So sollte der Zeitverlauf gewissermaßen in die Senkrechte gebracht werden. Der Hörer, so träumte er weiter, sollte sich aus den einzelnen Teilen einen Klang dann selbst zusammensetzen können.
Da sprach also jemand wie selbstverständlich über die anstehende Arbeit von vermutlich zwei oder drei Jahrzehnten und war doch schon stolze 70 Jahre alt. Stockhausens unbedingter Wille, »am Drücker« zu sein, wie er einmal sagte, die Vehemenz, mit der er sich und sein Schaffen verplante, sein Verlangen nach möglichst lückenloser Kontrolle wurde allseits bewundert und gefürchtet. Die eigene Verweildauer auf diesem Planeten mitzubestimmen, war ihm am Ende aber doch nicht gegeben. Von den 24 Stunden hat er in seinem letzten Zyklus »Klang« nur noch 21 komponieren können.
Vom genauen Laut seiner letzten Worte am 5. Dezember 2007 kursieren verschiedene Versionen. Er habe einen neuen Weg gefunden zu atmen, soll er gesagt haben. Jedenfalls ist er ganz offensichtlich vom Tod überrascht worden. Und nicht nur er: Wer ihn sah und traf, war bis zuletzt erstaunt über die enorme Schaffenskraft und geistige Schärfe, mit der er wie eh und je zu Werke ging.
Etwas als Erster gedacht und gemacht zu haben, war für Stockhausen mindestens so wichtig wie die Qualität dessen, was aus der Erfindung hervorging. Wer ihm gegenüber zu behaupten wagte, dass das ein oder andere, was er für sich selbst reklamierte, womöglich doch von einem anderen stamme, der konnte sich auf einiges gefasst machen.
Viele hat er mit der Gewalt seiner Ansprüche verschreckt und eingeschüchtert, andere aber gleichzeitig magisch angezogen. In den 1950er und 1960er Jahren vor allem, in seiner künstlerisch wohl fruchtbarsten Zeit, kamen Komponisten aus allen Ländern der Erde, um in seiner Nähe zu sein: zum elektronischen Studio des WDR nach Köln oder zu den Darmstädter Ferienkursen, die er als Lehrer und Vorbild lange dominierte. Die Geschwindigkeit, mit der Stockhausen damals ein Meisterwerk nach dem anderen vorlegte, kennt in der Musikgeschichte wenige Vergleiche.
Mit seinen Ressourcen ist Stockhausen denkbar ökonomisch umgegangen: er hat sie vor allem für sich und seine eigene Musik verwandt. Was um ihn herum komponiert wurde, fand selten seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Was vor ihm komponiert worden war, eigentlich nie. Diese radikale Beschränkung aufs Selbermachen und das weitgehende Desinteresse an der sogenannten Tradition ist mit dem Label »Egomanie« nur unzureichend etikettiert.
Am 22. August 1928 in Mödrath bei Köln geboren, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, nahm der Zweite Weltkrieg dem Heranwachsenden den Vater. Die schwermütige Mutter fiel dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer. In der vielbeschworenen »Stunde Null« sah Stockhausen wie so viele andere die Chance zum Neubeginn ohne Blick zurück. Anders als andere hat er es beim einmaligen Neuanfang dann nicht bewenden lassen. Neu anzufangen, dazu noch alleine, wurde für ihn zum Lebensprinzip.
Nach einer kurzen Ausbildung zum Schulmusiker in Köln, dann beim Komponisten Olivier Messiaen in Paris und dem Phonetiker Werner Meyer-Eppler in Bonn, ging er innerlich weiter auf Abstand zum Rest der Welt. Für einen Moment nur verneigte er sich vor dem großen Kollegen Anton Webern, danach bezog sich Stockhausen – offiziell zumindest – nur noch auf einen: Stockhausen.
Auch der ungeheure Erfolg des jungen Komponisten, der sich fast über Nacht an die Spitze der europäischen Avantgarde setzte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Karlheinz Stockhausen mit der Moderne, die ihn feierte, eigentlich wenig gemein hatte: Seine spektakulären Frühwerke, die Experimente mit musikalischer Elektronik, mit Verräumlichung oder offener Form, die die Musikgeschichte gewissermaßen im Halbjahrestakt revolutionierten, waren Ausdruck eines tief-religiösen Empfindens.
In den späten 1960er Jahren dann begann Stockhausens langer Weg von der Mitte des Musiklebens an dessen Rand. Esoterisches Gedankengut drang immer tiefer hinein in seine Arbeit. Was zunächst noch vom Zeitgeist der Hippiekultur gedeckt wurde, sah sich bald schon hämischer Kritik ausgesetzt. Stockhausen als Spinner abzutun, war nun ein Leichtes. Dabei blitzt inmitten von all dem mystischen Nebel um die »Licht«-Protagonisten Michael, Eva und Luzifer auch im Spätwerk immer wieder das Genie jenes Mannes auf, von dem nach dem Krieg nicht wenige gehofft hatten, er könne nach Wagner und Schönberg das Leuchtfeuer der deutsch-österreichischen Musikkultur in ein neues Zeitalter tragen. Der nationalistische Beigeschmack dieser Hoffnung wird ihm gewiss übel aufgestoßen sein, die Zuversicht in sein schöpferisches Vermögen kaum.
Was von einem Künstler bleiben wird, lautet eine beliebte Frage an dessen Grab. Stockhausen ist am 5. Dezember 2007 in seinem Haus in Kürten bei Köln gestorben. Die Frage aber wird vermutlich lange offen bleiben.