Kein Maler der Gegenwart hat so wie Jörg Immendorff mit seiner Zeit gelebt und gelitten. Am 14. Juni 1945 wurde er als Sohn eines Offiziers in Bleckede bei Lüneburg geboren, am 28. Mai 2007 starb er in Düsseldorf an Amyotropher Lateralsklerose, einer seltenen, unheilbaren Nervenkrankheit. Noch auf dem Totenbett diktierte er seinen Assistenten seine dunklen Bilder und entwarf zugleich wunderbare, verrückte und eigenartige Geschichten, die seine eigene Situation in der Welt spiegelten.

Immendorff hatte zwei große Lehrer, als er 1963 an die Kunstakademie Düsseldorf kam. Der eine war Teo Otto, ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus und der bedeutendste Bühnenbildner des deutschsprachigen Theaters in der Nachkriegszeit. Immendorff studierte 1963/64 bei ihm. Nach drei Semestern wechselte er zu Joseph Beuys, der mit seinen Fluxus-Aktionen dem Theater damals sehr nahe stand. Als 19-jähriger Student trat Immendorff in Badehose auf und hielt den Zuschauern lächelnde Köpfe bunt bemalter Papp-Babys als Unschuldswesen jenseits gesellschaftlicher Zwänge entgegen.

Schon bald ergriff Immendorff Partei, nicht nur theoretisch, sondern praktisch. Er besetzte Häuser, setzte sich für Obdachlose ein, demonstrierte für eine bessere Welt. Anschließend wechselte er die Methoden. Der Protestler wurde zum Pädagogen. Von 1968 bis 1980 unterrichtete er als Hauptschullehrer in Düsseldorf. Seit 1989 war er Professor an der Städelschule in Frankfurt, seit 1996 bis zu seinem Tod an der Kunstakademie Düsseldorf. „Mit allen Mitteln glaube ich, etwas schaffen zu können, was die Menschen verändert“, sagte er.

Ende der 1970er Jahre setzte seine Lust am Malen ein, sie ging einher mit der Freundschaft zu Ralf Winkler, der das Pseudonym A. R. Penck annahm. Immendorff war im Begriff, mit „Café Deutschland“ das wichtigste Werk in der Zeit des Kalten Krieges zu schaffen, als er Penck in Ostberlin und Dresden traf. Der Osten stützte sich in seinen Gemälden auf Hammer und Sichel, den Westen gab Immendorff im schrillen Kneipenmilieu der Düsseldorfer Diskothek „Revolution“, wo Punk und Politik, Halbwelt und Bohème agierten. Mit jedem Pinselstrich machte sich der Maler zum Zeitzeugen und demonstrierte Brüche und Widersprüche der deutsch-deutschen Geschichte. Er schuf pralle farbige Szenen, wo sonst der Minimalismus regierte. Er persiflierte und übertrieb. All seine Imperative und Zwiesprachen der späten 70er und der 80er Jahre galten der politischen Eiszeit. Der Stacheldraht zog sich durch die Herzkammer.

1984 wurde Immendorff Kneipenbesitzer, er übernahm das La Paloma in St. Pauli und spielte in seinen Bildern ab sofort die Doppelrolle von Kellner und Gast. Weitere Rollen kamen hinzu. 1985/86 stattete er die Strauss-Oper „Elektra“ für das Bremer Stadttheater aus, 1994 die Strawinsky-Oper „The Rake’s Progress“ für die Salzburger Festspiele. Die Planken des Bühnenbodens, Vorhänge, Kulissen und Requisiten wurden zum Milieu seiner Bilder und zu Sinnbildern einer Lebensbühne. Er selbst spielte dort die Double-Rollen, den Affen, den Jörg, den Lichtträger.

Ende der 1990er Jahre wurde die Krankheit zum Sinnbild vieler Bilder. Schwarze und rote Nervenenden schlängelten sich durch die Szenen, Fortuna schwankte an Krückstöcken. Seit 2003 waren seine Hände weitgehend gelähmt. Mit Jörg Immendorff starb ein wunderbarer Geschichtenerzähler und ein großer, witziger, angriffslustiger Pädagoge. In seiner letzten Skulptur, der goldgelben Bronze einer Biene, fegt das personifizierte Tier den Müll zusammen, um endlich Ordnung zu schaffen.