Es hätte so etwas geben können wie den nordrheinwestfälischen „Jedermann“, den alljährlichen Salzburger Festival-Ritus auf dem Domplatz über das Sterben des reichen Mannes. Als Gerard Mortier die Ruhrtriennale gründete, war Johan Simons von Beginn an dabei. Der Flame aus Gent und der Niederländer aus Gelderland kannten sich längst und gut.
Mortier brachte ihm den Stoff, aus dem 2003 eine der schönsten Triennale-Inszenierungen werden sollte, bis heute: „Sentimenti“ nach Ralf Rothmanns Revier- und Jugend-Roman „Milch und Kohle“, musikalisch mit Arien aus den Opern Verdis unterlegt. Simons inszenierte die Kreation mit Jeroen Willems und seiner europaweit gefeierten Gruppe ZT Hollandia. Das Spielfeld in der Jahrhunderthalle Bochum war ausgelegt worden mit Briketts. Aber hier wurde kein Arbeitermilieu realistisch getreu aufgerollt, vielmehr der Raum für Transzendenz eingerichtet, durchflossen von einem Gefühlsstrom. Anders als vor allem jüngere Kollegen, hat Simons keinen Vorbehalt gegenüber einer Emotion auf der Bühne.
Johan Simons ist seither kein Unbekannter in Nordrhein-Westfalen; mehrfach hat er für die Ruhrtriennale inszeniert, 2007 noch Calderons „Das Leben ein Traum“ in der Halle Zweckel herausgebracht, dann 2015 deren Intendanz übernommen und – nach einem süddeutschen Intermezzo an den Münchner Kammerspielen – 2018/19 die Intendanz am Schauspielhaus Bochum angetreten.
Der 1946 geborene Simons war einer der ersten, der in den frühen achtziger Jahren alternative Spielorte aufsuchte und der Bühne andere Räume und Formate zuführte, zunächst mit seinem „Wespetheater“, später dann mit dem Ensemble „ZT Hollandia“, für das er in eineinhalb Jahrzehnten mehr als 40 Inszenierungen schuf und das u.a. im Jahr 2000 den Europäischen Preis für Innovation im Theater erhielt. Später hat er das NT Gent geleitet. Er inszeniert(e)e parallel u.a. in Zürich, Hamburg, Berlin, Wien, Paris. Als Regisseur wurde er mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen, zuletzt etwa mit Elfriede Jelineks „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“ aus München und in der Bochumer Zeit mit „Hamlet“, gespielt von Sandra Hüller. Neben anderem ist Hüller auch seine Kleist-„Penthesilea“ im Körper-Duett mit Jens Harzer und der wiederum Simons’ gefeierter „Iwanow“ in Bochum.
Simons stand seit Beginn für offene Projekte, aber er beschäftigt sich ebenso mit Shakespeare, Tschechow, Büchner, Genet und Houellebecq deren Stück-Vorlagen er teils radikal perspektivisch verschiebt. Ein Mann des Sprechtheaters, aber nicht im klassischen Sinn des Guckkasten-Theaters oder auch nur des traditionellen Dramas. Für ihn sei „das internationale, europäische Theater ein Modell im Umbruch, eine Versuchskammer“, sagte er in einer Rede in Wien.
Früh schon arbeitete er mit dem Schlagzeuger Paul Koek als Co-Regisseur und musikalischem Leiter zusammen. Damals lautete die Vorgabe, das Theater zu den Menschen zu bringen. Das war so in Holland, wo „das Theater keine einzige Wirkung hat“, wie die Kritikerin einer Amsterdamer Zeitung harsch urteilte. Gruppen bereisten wie fahrendes Volk die Lande, spielten in einem Zirkuszelt – als Teil des Modells Regiotheater und so genannten Werktheaters. Oft haben Simons Company damals deutsche Dramatiker, Achternbusch, Valentin, Dorst, Kroetz Laederach, auch Büchner aufgeführt – Stücke von Unten, Volksstücke, Milieu-Studien.
Realitäts-Begründungen – dafür braucht es nicht viel. Einen Erdhaufen, eine Halle, die nicht aufgerüstet sein muss wie die Jahrhunderthalle. Es reicht eine einfache Spielfläche, Podien, eine schrundige Brandmauer, oder ein Autofriedhof und Hühnerhaus, wie bei Hollandia. Insofern war die Produktion von Pier Paolo Pasolinis „Accattone“ für die Ruhrtriennale 2015 in einer unwirtlichen Halle auf der Zeche Lohberg in Dinslaken die dem Hollandia-Geist am nächsten kommende Arbeit.
Bei dem stabilen, wuchtigen Mann, der aber kein bisschen grob ist – ein Blick in seine Augen genügt, um das zu erkennen – wird hinter der schweren Physiognomie ein sensibler Charakter spürbar. Als Heranwachsender dachte er daran, Pastor zu werden und Missionar in Afrika. Als er zum Glaubensskeptiker wurde, entschied er sich für die Kunst, begann an der Rotterdamer Tanzakademie und setzte das Studium fort an der Theaterakademie in Maastricht.
Er bewegt sich, als würde sich sein Körper in einem Ruhepunkt konzentrieren und spannen. Tief verwurzelt in seiner Heimat am Deich mit dem weiten Horizont. „Für meine Augen ist diese Landschaft das Beste. Die Leere ist mir wichtig.“ Es ist keine Leere des Mangels, sondern der Erfüllung. Simons' Vater war Bäcker – und hat gezockt beim Pferderennen. Später hat der Sohn in Berlin bei Frank Castorf am Rosa-Luxemburg-Platz Dostojewskis Roman „Der Spieler“ inszeniert. Verkappte Autobiographie ist’s immer.