Die eine ist in Istanbul , während die andere in Essen arbeitet – so geht Theater in digitalen Zeiten. Marlin de Haan ist mit den Proben zu ihrem aktuellen Projekt beschäftigt. „And in this very moment“ soll an zwei Orten parallel laufen und per Screen im ständigen Austausch stehen. Während die Düsseldorfer Theatermacherin also an diesem Nachmittag im Essener Maschinenhaus mit zwei Tänzer*innen beschäftigt ist, führt ihre Kollegin Ayşe Draz in Istanbul Regie. „Am Ende wollen wir versuchen, die beiden Teile im digitalen Raum zusammenzuführen“, sagt de Haan. Bis dahin allerdings wird noch manch ein Problem zu lösen sein – ganz frisch ist an diesem Tag die Ankündigung eines totalen Lockdown in der Türkei.
Wenn de Haan von Corona spricht, dann nicht verdrossen wegen all der wechselnden Beschränkungen. Eher scheint sie die Situation als Herausforderung anzunehmen, die spannende Fragen aufwirft und neue Formen des Präsentierens hervorbringen kann. Das Unvorhersehbare reizt die Regisseurin – schon lange. Und die Suche danach führt sie immer wieder weg vom sicheren Boden der Bühne. Seit vielen Jahren ist das Forum Freies Theater (FFT) in Düsseldorf ihre „Homebase“, von der aus sie schon etliche Ausflüge unternommen hat. "Im Theater gibt es diese eine klare Verabredung: Man kauft sich ein Ticket, kommt pünktlich und bleibt mindestens eine Stunde still sitzen. Im öffentlichen Raum ist das natürlich ganz anders."
Marlin de Haan erinnert sich an Tschechovs „Kirschgarten“, den sie 2019 in Düsseldorf inszeniert hat. Das Thema Hausbesetzung wollte sie damals angehen und fand im gesellschaftskritischen Theaterklassiker um ein russisches Landgut einen perfekten Aufhänger. "Wenn ich einen Klassiker mache, geht es mir immer darum, dass ich etwas Eigenes damit erzähle", so den Haan. „Bei Tschechov wird der Kirschgarten verkauft, die Bewohner verlassen das Haus, und nur einer bleibt." In de Haans Interpretation nun ist dies der klassische Hausbesetzer, der bleibt, auch wenn der Rauswurf bereits formuliert ist. Als Schauplatz sollte ein Hinterhof dienen, doch am Ende hat ihr Stück die komplette Kiefernstraße besetzt. „Man kann natürlich nicht sagen, also bitte jetzt mal eine Woche Ruhe, wir spielen hier Theater.“
Stattdessen haben de Haan und ihr Team das Gespräch mit den Anwohnern gesucht und daraus erst die Inszenierung entwickelt. Auch während der Aufführung kam es gelegentlich zum Austausch – etwa wenn Kinder vom Balkon herab das Gespräch mit den Akteuren suchten. Die Zuschauergruppe sei ihr extrem wichtig, so de Haan, als Adressat oder aber auch als Partner, der das Geschehen am Laufen halte. Wo fängt das Theater an, wo hört es auf? Diese Frage konnte man im Düsseldorfer Maurice-Ravel-Park stellen, wo die Regisseurin und ihr sonnenbehütetes Ensemble Henrik Ibsens „Frau vom Meer“ mit Fragen des 21. Jahrhunderts konfrontierte. Sicherlich zu Recht sieht de Haan sich relativ weit weg von der klassischen Inszenierung und gelegentlich recht nah dran an der Bildenden Kunst. Was bestimmt mit ihrer Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie zu tun hat, wo sie als Gast in der Klasse von Rosemarie Trockel ihre Theaterarbeit noch einmal unter neuen Vorzeichen betrachtet hat.
Sie blieb fünf Jahre und realisierte in der Folge eine ganze Reihe künstlerischer Objekte, Installationen, Performances. Eine etwa im Parkhaus unter der Düsseldorfer Kunsthalle, wo de Haan dem motorisierten Großstadtbetrieb zu Fuß und mit extremer Langsamkeit begegnete. Inzwischen will sie nicht mehr scharf trennen zwischen Theater und Bildender Kunst: „Alles was ich mache, sehe ich als Art der Inszenierung im Raum und für den Raum.“ Einen ganz speziellen wählte sie nun auch als Dreh- und Angelpunkt des Projekts, das sie im Rahmen des NRW-Förder- Stipendiums realisiert. Ins Rampenlicht rückt die Küche und ihre neue Rolle in der Pandemie. De Haan will sich diesem Thema mit filmischen Recherchen widmen, die dann möglicherweise auch in die Produktion eines Theaterstücks einfließen: „Was passiert denn gerade in Küchen? Wofür kann die Küche noch genutzt werden außer zum Kochen? Im Hinblick auf Homeoffice und Homeschooling tut sich dort im Moment doch ganz viel.“ So können auch aus alten Räumen neue Bühnen entstehen.