Ausgezeichnet! Die Trinkhallen-Kultur in NRW

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Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft hat die Büdchen als immaterielles NRW-Kulturerbe ausgezeichnet. Eine gemischte Tüte, bitte.

Es gibt wohl keinen anderen Ort, der so sehr das Ruhrgebiet verkörpert und gleichzeitig sein eigenes Klischee ist. Sicher, auch im Rheinland hat man „Kioske“ und „Trinkhallen“, in Berlin den „Nachtkauf“ und im Frankfurter Raum gar das „Wasserhäuschen“. Jener folkloristische, heimelige Budenzauber wohnt anscheinend aber nur den Verkaufshäuschen in den Straßen des Reviers inne. Auch wenn die Bude als Fototapete in durchschnittlichen Comedy-Nummern zu Tode gelacht wurde, der Mythos lebt – dort, wo Vorurteil und Realität zusammentreffen: im Alltag der Menschen.

Der kurze Gang zu Bier, Zigaretten und Süßigkeiten ist für viele Anwohner unverzichtbar. Auch unter ästhetischen Gesichtspunkten würde ohne die Bude etwas fehlen: die sympathische Unaufgeräumtheit, das Überangebot kleiner Dinge, das grelle Nebeneinander von Zeitungs-, Eis- und Zigarettenwerbung und nicht zuletzt die „Schaufenster“, die zeigen, was das Sortiment hergibt. Ebenfalls zu kurz käme das Soziale. Der schnelle Schwatz über Politik, Fußball oder den familiären Gesundheitszustand gehört dazu. Traf man sich früher am Brunnen in dörflicher Idylle, hat heute die Bude von nebenan die Funktion des Austauschs übernommen.

Überhaupt – die „Schaufenster“. Man kann sich gar nicht satt sehen an der absurden Mischung der Auslage. Da stehen Schnapsflaschen neben Tamponverpackungen und Fußballbildchen, daran schließen sich Boxen mit schreiend bunten Süßigkeiten, deren kleine Preise mit dem Filzmarker eigenhändig schwungvoll direkt auf die Sichtfenster geschrieben wurden. Hier hat die Kindheit in Form von Colakrachern, Leckmuscheln und sauren Pommes überlebt, die gemischte Tüte findet immer noch reißenden Absatz.

Auch die schlichte Lakritzschnecke hält den Platz im Regal und wurde deshalb zum Erkennungszeichen des „1. Kioskclub“ aus Dortmund, der sich „die Erforschung und Pflege der Kioskkultur weltweit“ zur Aufgabe macht. Seine Mitglieder tragen die Schnecke stolz gestickt als Aufnäher und Bekenntnis zur Budenkultur. Gegründet hat sich der Verein von Künstlern und Privatleuten im Fußball-WM-Jahr 2006 in Zusammenarbeit mit dem Dortmunder Museum am Ostwall im Rahmen der Ausstellung „Erfrischungspavillon – zu Gast bei Freunden“. Von außen betrachtet sah es so aus, als wäre in der Studio-Galerie des Museums ein Kiosk eröffnet worden, mit Verkaufsfenster, Zeitungsständer und Langnese-Fähnchen. Im Innern wurde das Kulturphänomen Kiosk musealisiert und diente als Kulisse für Veranstaltungen und Symposien. Der Club sucht die Öffentlichkeit und bietet „Kiosk-Ralleys“ an: Stadtführungen per Fahrrad, die die wichtigsten Buden abklappern.

Auch architektonisch hat die Bude ihre Reize. Von eilig in Baulücken gequetschten Kiosken bis zu freistehenden Pavillons reicht die Palette. Nahe des Dortmunder U hat der Brauer „Bergmann-Bier“ einen 50er-Jahre-Kiosk reanimiert und verkauft dort sein Bier nicht nur ans junge Szenepublikum. Innerhalb der Büdchen-Szene des Ruhrgebiets hat sich Kurioses etabliert, Stichwort: Angebotserweiterung. In Duisburg-Wedau gibt es eine „Trinkhalle für Mensch und Hund“, wo Hundefutter und Halsbänder erhältlich sind. Oder man sieht den Kiosk, an dessen Eistruhe ein Aushang über „Beerdigungen zu Hartz-IV-Preisen“ informiert, illustriert mit christlichem Kreuz und türkischem Halbmond.

Die Bude hat sich nicht nur im Ruhrgebiet zum Kulturphänomen entwickelt. Einige ICE-Stationen weiter östlich erforscht das Architekturbüro „Raumlabor Berlin“ die Budenkultur unter sozial-ästhetischen Aspekten. Auf ihrer Internetseite beschäftigen sie sich mit dem Phänomen der „Kioskisierung“ Osteuropas und untersuchen Veränderungen des Straßenhandels durch die Ansiedlung von Kiosken in ehemals sozialistischen Städten wie Halle, Lódz, Moskau. Mit der Wende entstand in den Plattenbausiedlungen eine Budenkultur, die ganze Supermärkte ersetzt. Neben den Forschungsergebnissen, die als Film und Buch vorliegen, ist auch die „My Kiosk Einkaufstasche“ zu finden, in die ein kompletter Buden-Einkauf passt: Bier, Zeitung, Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten. Das reicht zum Glücklichsein, in Bratislava und Wattenscheid.

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