Von Schmerz und Vergebung: Die Autorin Çiğdem Akyol im Gespräch

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Zehn Jahre hat Çiğdem Akyol an ihrem Buch geschrieben. Jetzt legt sie mit „Geliebte Mutter“ ihr beeindruckendes Romandebüt vor: Eine Geschichte über Gewalt, Liebe und das Leben einer Gastarbeiterfamilie im Ruhrgebiet. Im Interview erzählt die 1978 geborene deutsche Journalistin und Autorin mit türkischen Wurzeln, warum sie sich bewusst für eine weibliche Perspektive entschieden hat und warum ihr Buch keine Abrechnung, sondern eine Liebeserklärung ist.
Ihr Roman beginnt mit dem Satz: "Ich will ihn brennen sehen, sagte meine Mutter während eines Telefonats, als ich in Berlin im Taxi saß." Inwiefern ist dieser Satz der Ausgangspunkt der Geschichte?


C.A.:
Ich wollte einen harten Einstieg, einen, der herausfordert. Ich habe lange mit verschiedenen Einstiegen experimentiert und mich bewusst für diesen heftigen Beginn entschieden, weil ich den Leser*innen etwas zumuten möchte. Ich wollte direkt zu Beginn zeigen, wie Gewalt innerhalb einer Familie weitergegeben wird und habe deswegen die Drastik besonders ausgeschmückt. Für mich sind diese harten Szenen ein Instrument, damit sich die Figuren in die Köpfe meiner Leser*innen einprägen. Die Aussage der Mutter – sie will ihren Mann brennen sehen – zeigt aber auch, wie verloren sie ist. Es sind die brutalen und schönen Gleichzeitigkeiten, die die Leben der Familie Güney prägen. Das Cover und der Titel, "Geliebte Mutter", wirken ja zunächst harmlos, eine gezielt gewählte Irritation, aber auch ein Symbol dafür, dass dieser Roman keine Abrechnung, sondern eine Widmung ist.
Sie erzählen eine vielschichtige Familiengeschichte. Welche Themen lagen Ihnen dabei besonders am Herzen?
C.A.:
Ich wollte die Geschichte einer sogenannten Gastarbeiterfamilie aus weiblicher Perspektive erzählen – ein Blickwinkel, der in der Literatur oft fehlt. Ich wollte über Verlust, Traumata, Sucht, eine bedingungslose Liebe und Vergebung schreiben. Ich wollte schildern, welchen Eltern auf ihre Kinder ausüben, damit sie einen sozialen Aufstieg schaffen. Wichtig war mir auch zu zeigen, dass Frauen und Mütter sowohl Opfer als auch Täterinnen sein können. Aynur ist ja nicht nur Komplizin ihres sie schlagenden Mannes, sondern auch aufopferungsvolle Mutter.
Die Beziehung zwischen Aynur und ihrer Tochter Meryem ist sehr komplex. Wie würden Sie dieses Verhältnis beschreiben, das sich im Laufe der Jahre immer wieder verändert?


C.A.:
Die Beziehung der beiden ist voller Widersprüche – Hass, Wut und Gewalt stehen neben bedingungsloser Liebe und echter Zärtlichkeit. Für Aynur ist klar, dass sie nur das Beste für ihre Kinder will, während Meryem damit hadert, weil sie unter der Gewalt ihrer Mutter leidet. Dennoch versteht sie ihre Mutter und erkennt die Gründe für deren Handeln. Wenn Außenstehende Meryems Mutter kritisieren, dann verteidigt sie diese. Letztlich ist die Geschichte auch ein Liebesbrief an diese widersprüchliche Beziehung.
Im Roman stehen traumatische Erlebnisse wie Gewalt, Diskriminierung und Krankheit im Fokus. Wie sind Sie an diese emotionalen Themen herangegangen?
C.A.:
Es sind zutiefst menschlichen Themen, die jeden betreffen und die ich aus verschiedenen Perspektiven durchaus kenne. Deswegen fiel es mir nicht schwer, zunächst einmal alles aufzuschreiben. Ein befreundeter Autor riet mir später, einige drastische Szenen zu kürzen, damit die Leser*innen nicht aussteigen. Für mich hätte es durchaus noch mehr davon geben können. Natürlich kann mir der Vorwurf gemacht werden, dass es Gewaltvoyeurismus sei. Aber Gewalt ist eine gesellschaftliche Realität, die ich in ihrer vollen Härte darstellen wollte – ohne sie zu beschönigen.
Gibt es eine Passage im Buch, die Ihnen besonders wichtig ist?
C.A.:
Drei Szenen liegen mir besonders am Herzen: Die Beerdigung des Vaters in der Türkei, wo die Ambivalenz der Familie vor der Kulisse von Bergen und Schnee spürbar wird. Dann eine Begegnung zwischen Meryem und einem Gerichtsvollzieher, in der die familiären Probleme nach außen dringen. Und schließlich eine Szene in der Psychiatrie, die wie unter einem Brennglas zeigt, wie stark die Vergangenheit Meryem geprägt hat.
Die Geschichte der Familie spiegelt die Erfahrungen vieler Gastarbeiter*innen in Deutschland wider. Was hat Sie bei der Schilderung dieser Erlebnisse inspiriert?
C.A.:
Meine eigenen Familienerfahrungen. Meine Eltern kamen in den 1970er-Jahren als Gastarbeiter*innen aus der Türkei nach Herne – meine Mutter als Näherin, mein Vater als Schweißer. Sie sind gekommen, um zu arbeiten und uns Kindern ein abgesichertes Leben zu ermöglichen. Besonders lebendig ist mir in Erinnerung geblieben, wie meine Mutter, die aus dem bunten Istanbul stammte, sich am Frankfurter Flughafen vor Schreck direkt eine Tafel Schokolade kaufte und diese verschlang. Sie war verängstigt über die Trostlosigkeit des neuen Ortes. Auf dem Weg nach Herne fühlte sie sich unwohl, weil alles so grau und eintönig wirkte. Beide haben einen Ort verlassen, den sie liebten. Das sollte man nie vergessen: Menschen, die migrieren, lassen vieles hinter sich – ihre Heimat, ihre Familien, ihre Lieblingsorte. Viele beginnen in der Fremde ganz unten, müssen sich an unausgesprochene Regeln halten und ducken. Ich rede hier nicht von den Expats, die bei Google oder einer NGO anfangen, sondern von dem großen Rest.
"Nun würde sie eine Einwanderin werden, ohne zu wissen, was Einwanderung eigentlich ist."
aus: Çiğdem Akyol, "Geliebte Mutter"
Konnte Herne für Ihre Eltern jemals ein echtes Zuhause werden?
C.A.:
Ja, interessanterweise schon. Jahrelang haben sie von einer Rückkehr in die Türkei geträumt. Sie haben hart geschuftet, ihnen wurde wahrlich nichts geschenkt. Als wir Kinder dann erwachsen waren, wollten sie im Alter nicht mehr in die Türkei zurückkehren, sie haben ein Ankommen in Herne erlebt. Heimat kann mehr sein als ein Ort, etwa Erinnerungen, Systeme und Menschen.
Wie war der Schreibprozess für Ihren ersten Roman im Vergleich zu Ihren Sachbüchern?
C.A.:
Sachbücher zu schreiben, fiel mir leichter, weil ich dabei auf journalistisches Handwerk zurückgreifen kann. Literatur ist freier, aber diese Freiheit birgt auch Gefahren – man kann sich leicht verzetteln. Ich habe über zehn Jahre an diesem Text gearbeitet, ihn immer wieder verworfen und neu angefangen. Es war ein langer, intensiver Prozess.
Ihr Roman wechselt zwischen verschiedenen Perspektiven und verbindet persönliche Erzählungen mit zeitgeschichtlichen Bezügen. Wie haben Sie die Struktur entwickelt?


C.A.:
Ich habe jahrelang mit der Erzählform experimentiert, sie immer wieder verändert und neu zusammengesetzt, bis es für mich wie ein stimmiges Mosaik wirkte. Die Briefform habe ich gewählt, um die Zerrissenheit Meryems widerzuspiegeln.
Was hoffen Sie, dass Leser*innen aus "Geliebte Mutter" mitnehmen?


C.A.:
Ich wünsche mir, dass wir alle mehr anerkennen, dass Migrant*innen ihre eigenen Geschichten und Widersprüche mitbringen – oft geprägt von harter Arbeit und vielen Verletzlichkeiten. Es geht darum, diese Menschen als Individuen wahrzunehmen und ihre Erfahrungen, auch den sozialen Aufstieg und dessen Belastungen, besser zu verstehen. So banal es sich anhören mag, aber letztlich erinnert der Roman daran, dass wir es immer mit Menschen zu tun haben – eine Perspektive, die in politischen Debatten leider oft verloren geht.

Çiğdem Akyol, geboren 1978 in Herne, studierte Osteuropäische Geschichte und Völkerrecht in Köln. Nach Stationen in Russland und der Berliner Journalisten-Schule arbeitete sie als Redakteurin bei der taz und als Korrespondentin der österreichischen APA in Istanbul, wo sie u.a. über den Putschversuch 2016 berichtete. Ihre Beiträge erschienen u.a. in Zeit Online, FAZ und NZZ. Zu ihren Büchern zählen Erdoğan. Die Biografie (2016) und Die gespaltene Republik (2023). Derzeit ist sie Reporterin Internationales bei der Wochenzeitung in Zürich. "Geliebte Mutter- Canım Annem" ist ihr Romandebüt.

Çiğdem Akyol, "Geliebte Mutter – Canım Annem"

Steidl, 240 Seiten

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