Im Porträt: Der Künstler Alex Wissel

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Seine Karriere startete 2011 in einer Düsseldorfer Kneipe, wo Alex Wissel seinen „Single Club“ betrieb – eine Mischung aus Party, Performance und Experiment. Seither ist der Künstler mit ganz unterschiedlichen Projekten hervorgetreten. Schon jetzt Kult: Die Web-Serie „Rheingold“, die Wissel gemeinsam mit dem Regisseur Jan Bonny drehte und dabei selbst die Rolle von Joseph Beuys übernahm. In seinem Düsseldorfer Atelier zeichnete er zuletzt mit viel Geduld und zig Bleistiften Katalogtexte ab.

Mittlerweile gehören die Corona-Einschränkungen der Vergangenheit an. In Alex Wissels Düsseldorfer Hinterhofatelier lehnen aber noch ein paar Erinnerungen an harte Lockdown-Zeiten an der Wand. Tage-, wochen-, monatelang hatte der Künstler in diesen vier Wänden gezeichnet – keine Bilder, sondern Texte zu einer aktuellen Publikation. Buchstabe für Buchstabe abgeschrieben, mit Bleistift auf Papier. Als Vorlagen dienten Essays verschiedener Autoren, die von Wissels Werk handeln. „Ein Text dauert im Schnitt einen Monat, wenn ich jeden Tag acht Stunden zeichne – eine Woche pro Seite.“

So viel Langmut hätte man Wissel kaum zugetraut. Doch habe er schon seit einiger Zeit den Plan gehegt, die Textproduktion selbst einmal zum Thema zu machen, wie er sagt. Besonders spannend findet der Künstler dabei, „wie der Wert des Werks durch Texte gesteigert wird – der Text als symbolisches Kapital, das die Arbeit wertvoller macht.“

Wissel ist umtriebig, in vielen Medien aktiv – und auch darüber hinaus. Doch das Zeichnen, so erklärt er, sei ihm die wichtigste künstlerische Praxis. Eine langwierige handwerkliche Tätigkeit, über die er sich seinem Gegenstand nähern könne. In diesem Fall hat er dabei zig Bleistifte aufgebraucht und etliche Glühbirnen verschlissen im Tageslichtprojektor, der ihm beim händischen Kopieren der gedruckten Seiten eine große Hilfe war. Wissel ist noch keine 40, aber über Leben und Werk gäbe es schon einiges zu schreiben – oder abzuschreiben. Als Künstler hat er diverse Rollen ausprobiert: Club-Betreiber etwa, Schauspieler oder Drehbuchautor.

Auch Wissels Vita ist eher ungewöhnlich: erst Haupt-, dann Real-, schließlich Fachoberschule. Eigentlich wollte er „Buchverkäufer“ werden, entschied sich aber letztendlich zum Kunststudium in Düsseldorf bei Rosemarie Trockel. Aus dem Loch, in das viele Absolventen nach der Akademiezeit fallen, hat Wissel sich rasch herauskatapultiert und war in seiner „Oktoberbar“ am Worringer Platz in Düsseldorf gelandet. „Ich hatte immer schon den Traum, eine Bar aufzumachen“. Gemeinsam mit Künstlerkolleg*innen schmiss er den Laden. Zwei der drei Kegelbahnen im Keller wurden umfunktioniert. In einem Raum fanden Ausstellungen statt, der andere war Konzert- und Vortragssaal, der dritte blieb den Keglern.

Jeden Abend bot Wissel ein anderes Programm – das kam an. So gut, dass er nach dem tollen Oktober 2010 weitermachen wollte. Am gleichen Ort im „Single Club“, der in Düsseldorf voll einschlug: Der Club als Bühne, auf der jeden Monat etwas anderes stattfand. Konzerte, Vorträge, Partys, immer 24 Stunden lang. Dazu haben Künstler*innen jedes Mal wieder alles komplett neugestaltet – von der Toilette bis zum Kellner*innen-Kostüm. Ein Gesamtkunstwerk, zu dem auch eigens gegründete Bands und selbstgemachte Plakate gehörten. Nach einem Jahr war der Zauber vorbei, doch geblieben ist ein Film. Gedreht vom damals schon durch „Tatort“ oder „Polizeiruf“ bekannten Regisseur Jan Bonny, der bis heute eine recht bedeutende Rolle für Wissels Werk spielt.

Auch beim nächsten Vorhaben war Bonny dabei. „Rheingold“, so der Titel des Projekts, das mit filmischen Skizzen begann und im Auftrag der Berliner Volksbühne als prominent besetzte Web-Serie auf Sendung ging. Es geht um den Düsseldorfer Art Consultant Helge Achenbach, der 2014 mit einträglichen Betrügereien aufgeflogen war. Der Kunstberater hatte Dollarrechnungen mit kleinen Eurozeichen überklebt und diese Fälschungen später vor Gericht als künstlerische Collagen deklariert.

Es ist spannend, wenn durch eine künstlerische Arbeit eine Zeit lebendig wird.
Alex Wissel

Mit dem Fall Achenbach als Aufhänger bewegen sich Wissel und Bonny in ihrem Film durch die Bundesrepublik der vergangenen 25, 30 Jahre. Und verfolgen die Entwicklung von Joseph Beuys mit seinem Diktum „jeder Mensch ist ein Künstler“ bis hin zur „Ich-AG“ der Ära Gerhard Schröder. „Wir beschreiben, wie Ideen der 68er aus dem Kunstumfeld zu neoliberaler Realität wurden.“ Dazu passt auch Wissels Bühnenbild: Eine Adaption von Beuys‘ Capri-Batterie war die Sonne und der Nachbau von Ottmar Hörls Euro-Skulptur hing als Mond in der Kulisse. Dazwischen huschte Wissel als Geist von Joseph Beuys mit Anglerweste und goldenem Gesicht durch die Geschichte.

Er mag die Maskerade. Man sah den Künstler auch schon einmal im Showmaster-Look, ein Einstecktuch im taillierten Jackett. Oder als verseuchten Greis: In brauner Kutte mit weiß gesprühtem Haar, auf der Haut überall eklige Geschwüre. An diesem Tag jedoch ist Wissel ganz er selbst und sein Outfit einigermaßen unauffällig: Slipper, Jeans, Hemd, die Brille mit runder Metallfassung.

Der Künstler lehrt derzeit als Gastprofessor Malerei in Münster und ist daneben in diversen Archiven unterwegs, wo er vor allem historischen Wurzeln der Neuen Rechten nachspürt. Tief eingestiegen ist er in dieses Thema und referiert gern über die Künstlerfeste des 19. Jahrhunderts: echte Großveranstaltungen, die in Zusammenhang mit der Reichsgründung 1871 immer nationalistischer und rassistischer geworden seien. Schnell kommt Wissel in Fahrt, und man muss sich beeilen, ihm zu folgen.

Viele der heute vielbesuchten Denkmäler, seien ursprünglich aus Gips und Pappe als Deko für diese Feste entstanden und später in Bronze verewigt worden. Ein prominentes Beispiel: das Kyffhäuserdenkmal in Thüringen, das interessanter Weise der völkisch-nationalistische „Flügel“ der AfD zur Kulisse für regelmäßige Treffen nutzte.

Wissel hat noch viel mehr solcher Geschichten in petto, kann mühelos Bögen spannen von Bismarck, dessen Mythos und den gleichnamigen Heringen über das WM-Sommermärchen bis zu den Querdenkern. Manch eine Ausstellung zum Thema konnte er vor der Corona-Pause realisieren. Ende 2019 etwa in der Düsseldorfer Sammlung Philara, wo Wissel in Zeichnungen und Installationen nationalistische Geschichtsbilder von damals und heute verschränkte und als ironische Beigabe täuschend echt nachgebildete deutsche Hausmannskost präsentierte: Rotkohl, Sauerbraten, Kartoffelsalat… - auf Tellern angerichtet wie im Ausflugslokal.

Fast zur gleichen Zeit gastierte Wissel auch im Düsseldorfer Kunstverein am Grabbeplatz, dessen fragwürdige Namensgeschichte der Künstler in einer ortsspezifischen Installation unter die Lupe nahm. Erst seit 1936, dies muss man dazu wissen, trägt dieser Platz den Namen des unter den Nationalsozialisten hochverehrten Dichters. Riesige Pestbeulen aus Pappmaschee hatte Wissel damals stellvertretend für die „braune Pest“ im Kunstverein an die Wand geklebt. Ohne Ironie geht es nie bei Wissel, der die Mega-Beulen bis heute in seinem Düsseldorfer Atelier lagert. „Man muss die Vergangenheit kennen“, so Wissel, „um die Gegenwart zu verstehen“.

Videos zu Alex Wissels „Rheingold“-Projekt

Text
Stefanie Stadel
Fotos
Markus J. Feger

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