Wie prägen uns unsere Großeltern und Eltern? Um das herauszufinden, hat Carola von Seckendorff an diesem Vormittag vier Schauspieler zu Gast. Im Münsteraner Kammertheater „Der Kleine Bühnenboden“ erzählen sie aus ihren Familien – eindrücklich, überraschend und sehr persönlich zugleich. Dabei geht es auch um die Geschichte der Regisseurin selbst, die das Münsteraner Stadtensemble mitbegründete.
Bewegung allein – das genügte ihr irgendwann nicht mehr. Nach der Schule hat Carola von Seckendorff eine Ausbildung zur Pantomime gemacht und währenddessen gemerkt, dass sie sich nicht nur durch Bewegung, sondern auch mit Sprache ausdrücken möchte. Also begann sie auf Theaterbühnen, wie dem Kölner Theater der Keller aufzutreten, wo sie sich auch als Schauspielerin ausbilden ließ. Mitte der 1990er-Jahre wurde sie Ensemblemitglied am Theater Münster, mit dem sie bis heute fest verbunden ist.
Heute setzt Carola von Seckendorff vor allem freie Projekte um. Sie arbeitet einerseits gerne im Kollektiv und im intensiven Austausch mit einem Team, andererseits vertieft sie sich in monatelange Recherchearbeiten. Gemeinsam mit fünf Schauspielerinnen hat sie in der Vergangenheit das Stück „MutterHabenSein“ entwickelt, in dem die Lebenslinien weiblicher Biografien nachgezogen wurden. Grundlage der Recherche waren intensive und sehr persönliche Interviews mit den Schauspielerinnen, bei denen es um ihre Familiengeschichte ging. Gespielt wurde das Stück nicht auf der ganz großen Bühne, sondern in Kneipen.
Bei einer ihrer jüngsten Produktionen, betitelt „Vattertach – eine biographische Herrenpartie“, arbeitete Carola von Seckendorff mit vier Schauspielern zusammen. Beteiligt waren Ulrich Bärenfänger, Konrad Haller, Thorsten Hölters und Stefan Naszay. Mit einem umfassenden Fragenkatalog versuchte sie herauszufinden, welche Muster sich in den letzten drei Generationen innerhalb der Familien wiederholen. Welchen Einfluss haben die Erlebnisse der Großeltern auf die Enkel? Welche Verhaltensmuster der Eltern können Kinder nicht ablegen, selbst wenn sie darunter gelitten haben? Bei unserem Besuch in Münster haben uns Carola von Seckendorff und das Ensemble einen Einblick in den Rechercheprozess gegeben und einige der Fragen beantwortet. Konrad Haller ist in einer großen Familie aufgewachsen und hat vier Geschwister. Wenn er heute Fotos und Videos aus seiner Kindheit betrachtet, kommt ihm alles gleichzeitig nah und fremd vor.
Die Thematik hat Carola von Seckendorff aus der Erkenntnis heraus aufgegriffen, dass trotz aller Leidenschaft für das Theater, die Familie immer an erster Stelle kommt. „Wenn meinen Kindern oder meinem Mann etwas passiert, dann ist mir das Theater wurscht. Und auch alles andere. Dann weiß ich, wo ich zu sein habe.“ Deswegen arbeitet sie sich in ihren aktuellen Projekten an Familiengeschichten ab und untersucht den Ursprung dieses starken Bandes. Wie sich Kriegserfahrungen und die gesellschaftliche Prägung auf unser heutiges Miteinander auswirken, beschäftigt auch Stefan Naszay, dessen Opa bei der Wehrmacht war.
Carola von Seckendorff beschreibt die Sprachlosigkeit der Eltern und Großeltern, die Unfähigkeit, sich über die deutschen Kriegsgeschehnisse zu artikulieren und das Erlebte mit der Familie aufzuarbeiten. „Wir können uns nicht abschneiden, von unserer Vergangenheit“, sagt sie und möchte mit dem Stück zu einem generationenübergreifenden Dialog anregen. Ihre Großmutter war Schöffin im Auschwitz-Prozess, der Nicht-Umgang mit deutscher Geschichte ließ ihre Mutter politisch aktiv werden. Ulrich Bärenfänger wurde adoptiert und ist in einer christlich geprägten Familie aufgewachsen. Die politische Einstellung seines Vaters hat sich während des 20. Jahrhunderts stark gewandelt.
Die Familiengeschichten der vier Protagonisten sind sehr unterschiedlich, die Zeit des Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen verbinden sie. Die Väter von Stefan Naszay, Konrad Haller, Ulrich Bärenfänger und Thorsten Hölters sind bereits verstorben. Damit ergründen die Fragen auch den Umgang mit dem verfrühten Tod einer Vaterfigur.
Aus den Erfahrungen der vier Protagonisten entstand ein Stück, das unter anderem im Stadtraum aufgeführt wurde. Die Recherche ergänzte Carola von Seckendorff durch Eindrücke, die sie während verschiedener Improvisationen mit den Schauspielern erlangt. Wenige Minuten hatten die vier Männer für ihre Impros Zeit, die Themen gab die Regisseurin vor. Wenn die Schauspieler auf der Bühne stehen, die räumlich bedingt einen sehr direkten Zugang ermöglicht, und anhand von Erinnerungsstücken vom verstorbenen Vater erzählen, verschwimmen Bühnencharakter und Privatperson. Dann machen sich die Schauspieler durch ihre Offenheit derart verletzlich und berühren so tief, wie es auf anderen Bühnen kaum vorkommt.