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Arielle Freytag ist Anfang 30. Sie hat gerade eine Depression überstanden als sie in ihre Heimatstadt Essen zurückkehrt. Genauer gesagt: Essen-Katernberg. Dort begegnet sie alten Bekannten und neuen Gesichtern, streift um die Häuser – und setzt nach und nach die Puzzlestücke ihrer Vergangenheit zusammen. Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ handelt von Familie und Verlust. Und von dem Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören – und doch Teil von allem zu sein. Wir haben mit der Autorin über ihr Buch gesprochen.
Die Geschichte deines Romans wird aus Sicht von Arielle Freytag erzählt. Sie arbeitet eigentlich als Social-Media-Managerin in Düsseldorf, kehrt nach einem Klinikaufenthalt aber für eine Weile in ihre alte Heimatstadt Essen zurück. Was ist Arielle für eine Figur?
L.R.:
Für mich ist sie eine Antiheldin. Ich habe jetzt schon häufiger gehört, dass einige Leser*innen sich schwer mit ihr tun, was ich gut nachvollziehen kann. Arielle ist etwas unreflektiert, noch dazu oberflächlich und eitel. Und sie grenzt sich stark nach unten ab. Ich habe aber die Hoffnung, dass man ihr trotzdem etwas abgewinnen und Wärme für sie empfinden kann. So geht es mir zumindest.
Eine weitere weibliche Protagonistin ist Arielles Großmutter Varuna. Welche Rolle spielt sie in ihrem Leben?
L.R.:
Arielle wächst bei ihr auf, nachdem ihre eigene Mutter verschwunden ist. Die beiden haben ein ambivalentes Verhältnis, aber sie ist die einzige Person, die Arielle aus ihrer Familie geblieben ist. Sie ist trotz allem sehr wichtig für sie.
In deiner Geschichte gibt es auch einen Krimi-Aspekt – unter anderem verschwinden zwei Mädchen aus dem Viertel, in dem Arielle groß geworden ist. Wie bist du auf diese Idee gekommen?
L.R.:
Den Gedanken hatte ich von Anfang an. Aber ich wollte die Ereignisse rund um die verschwundenen Mädchen aus Sicht einer Nebenfigur erzählen. Arielle erlebt das Geschehen nur von der Seitenlinie aus. Das war für mich ein interessanter Blickwinkel.
Durch ihre Rückkehr nach Essen-Katernberg wird Arielle mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Wie wird ihre Herkunft im Roman sichtbar?
L.R.:
Arielle ist an einem Ort groß geworden, von dem sie als Kind und Jugendliche eigentlich immer fliehen wollte. Ihr ist es wichtig, sich davon abzugrenzen und „besser“ zu sein. Das merkt man ja auch an ihrem Ton: Sie spricht mit viel Härte über ihr altes Zuhause und über die Menschen, die dort leben.
Wie hast du entschieden, die Geschichte aus Arielles Sicht zu schildern?
L.R.:
Ich hatte erst verschiedene Ansätze im Kopf. Beim Schreiben habe ich aber gemerkt, dass Arielles Sicht sich richtig anfühlt. Die Ich-Perspektive bringt aber ganz eigene Fragen mit sich. Das fängt schon damit an, warum und für wen Arielle all das erzählt. Das Problem konnte ich dadurch lösen, dass Arielle sich mit ihren Gedanken und Erlebnissen an ihre verschwundene Mutter richtet.
Du bist selbst in Essen-Katernberg geboren. Warst du während des Schreibens noch häufiger dort?
L.R.:
Ich war ein paar Mal da, um meine Erinnerungen zu überprüfen. Aber ich hatte keinen dokumentarischen Anspruch an mein Buch. Natürlich spielt die Handlung an einem realen Ort, aber ich wollte vor allem ein Gefühl beschreiben. Welches Gefühl ich genau meine, kann ich gar nicht in einem Satz sagen – ich hoffe, da ist mein Roman schlauer als ich und fängt es ein, auch wenn ich es nicht konkret benennen kann.
Was erzählt dein Roman über die Ruhrgebietsstadt Essen?
L.R.:
Essen ist eine sehr gegensätzliche Stadt. Reiche und eher arme Stadtteile sind klar durch die A40 getrennt. Dieser Aspekt kommt auch im Buch zum Tragen. Mir war es wichtig, eine Geschichte über das Ruhrgebiet zu erzählen, die auf Malocher-Klischees und Bergbau-Romantik verzichtet. Diese Themen sind für viele Menschen, die in Essen leben, nämlich nicht mehr relevant.
Wie lange hast du an deinem Debüt gearbeitet?
L.R.:
Die ersten Worte habe ich Anfang 2017 geschrieben. Natürlich habe ich nicht jeden Tag am Schreibtisch gesessen, aber so oft es ging. Zwischendurch habe ich aber auch an anderen Projekten gearbeitet und viele Kurzgeschichten verfasst.
Wie hast du das Schreiben selbst erlebt?
L.R.:
Oft stand ich vor ganz grundsätzlichen Fragen – zum Beispiel, ob ich überhaupt einen Roman schreiben kann und diese Fähigkeit in mir habe. Da habe ich häufig mit mir gerungen. Unmittelbar nach Abschluss des Buches kam mein Sohn zu Welt. Ich werde also erst noch herausfinden, wie das Schreiben mit Kind funktionieren kann. Ich hoffe aber, dass ich jetzt mehr Grundvertrauen in mich und mein Schreiben habe.
Dein Debüt ist bei Rowohlt erschienen. Wie kam der Kontakt zum Verlag zustande?
L.R.:
Ich hatte das Glück, mit einer Agentur zusammenarbeiten zu können. Die hat den Kontakt zum Verlag hergestellt. Durch mein Studium hatte ich ja schon den Fuß in der Tür – und trotzdem war dieser ganze Prozess nicht einfach. Der Literaturbetrieb ist immer noch sehr undurchlässig. Vieles läuft über Netzwerke und gute Kontakte.
Hast du denn schon Ideen für das nächste Buch?
L.R.:
In meinem Kopf sind viele Ideen, aber aktuell komme ich selten dazu, mich konkreter damit zu beschäftigen. Ich freue mich natürlich sehr darüber, dass es mit „Keine gute Geschichte“ so gut läuft, bin deswegen aber auch viel unterwegs. Zum ersten Mal in meiner Autorinnenkarriere muss ich mich um Lesereisen und Interviewanfragen kümmern. Da bleibt nur wenig Zeit zum Schreiben.
Wie waren die ersten Lesungen für dich?
L.R.:
Ich war sehr nervös. Aber dann habe ich mir bewusst gemacht, dass die Leute ja wegen mir da sind und etwas über mein Buch erfahren wollten. Lesungen sind keine Prüfungen. Trotzdem ist das alles für mich noch sehr surreal. Es ist schön, meinen Leser*innen und zu begegnen. Aber ich bin auch eher introvertiert und fühle mich alleine am Schreibtisch eigentlich ganz wohl.
Über Lisa Roy
Lisa Roy wurde 1990 in Leipzig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Sie studierte in Dortmund und Köln und veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und Anthologien. Für die Arbeit an ihrem ersten Roman Keine gute Geschichte erhielt sie 2021 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und den GWK-Förderpreis Literatur. Sie lebt mit ihrer Familie in Köln.