Dieser Laden hier ist für jemanden wie ihn der ideale Treffpunkt für ein Gespräch über Leidenschaft und den Sinn des Künstlerlebens: André Tolba steht im „Red Hot And Blue“ an der Theklastraße in Essen und ist umgeben von Shirts, auf denen die Konterfeits von Johnny Cash und Elvis Presley zu sehen sind. Schwere Blue-Jeans hängen über mehrere Meter hinweg an der Stange. Hemden mit Leopardenfell-Kragen sind hier keine Ausnahme sondern die Angebotsregel. Und an den Wänden ist auf gefühlt jedem Poster oder Metallschild oder Magnetsticker jenes Wort zu lesen, um das sich in diesem Einkaufsparadies für eine ewig jung gebliebene Jugendkultur alles dreht – und um das sich André Tolbas Leben dreht „Rock’n’Roll“. Er ist der Urschleim der modernen, der populären Musik. Und André Tolba ist einer, der mit Wonne in diesem Urschleim rührt: Er gehört zu den besten Rock’n’Roll-Gitarristen des Landes. Es musste so kommen.
Geboren wurde André Tolba 1972 in Mülheim an der Ruhr. Er ist ein Kind des Ruhrgebietes. Hier, wo all die Klischees von Arbeit, Schweiß und dem rauen Charme der Menschen – wenn sie denn Musik wären – immer schon näher am verzerrten Gitarrenriff denn an der Opernarie lagen, lauert der Rock’n’Roll ja ohnehin an jeder Ecke. Und zwar in allen Spielarten bis hin zum Punk und Metal – man denke nur an die international für Furore sorgende Trash-Koryphäen Kreator aus Essen. Er lauert in Clubs und Konzerthallen und Proberaumbunkern und Plattenläden. Oder eben dort, wo immer sich André Tolba gerade herumtreibt.
„Ich hatte keine Wahl“, sagt er lachend. Aufgewachsen mit der Plattensammlung seiner Mutter hörte er schließlich schon im Kindergarten-Alter Rock’n’Roll-Songs. „Vor allem Elvis“, sagt er. „Elvis rauf und runter.“ Stand dadurch in der Schule allein da, weil alle um ihn herum Neue Deutsche Welle hörten, während der kleine André daheim vor dem Spiegel die imaginäre Gitarre in der Hand hielt und zu den Songs des Kings, Chuck Berrys, Shakin‘ Stevens‘ oder Peter Kraus‘ tanzte. Und irgendwann wurde der Rock’n’Roll dann eben so raumgreifend, dass er zum Lebenskonzept avancierte. Weg vom Spiegel im Kinderzimmer, hinaus in die Welt. Diese Musik wurde zur Existenzfrage und neben Passion auch zur Profession.
Seitdem hat André Tolba so Einiges zu erzählen. Am liebsten mit der Gitarre in der Hand. In seinem Fall ist das eine Gretsch 6120 aus dem Jahr 1959. Oder: „Der heilige Gral“, wie er sagt. Erstmals in einem Londoner Schaufenster gesehen und sofort für nicht wenig Geld gekauft. Mit ihr huldigt er dem Rock’n’Roll: „Diese raue Energie, die sich so anfühlt, als ob man auf einer Welle surft.“ Und die Spieltechnik, „die mitunter gar nicht so weit weg vom Jazz liegt“. Er betont das. „Jazz.“ Das ist ihm als Musiker sehr wichtig. Es besagt nämlich: Rock’n’Roll ist für André Tolba nicht in erster Linie ein äußerliches Ding. Kein reines Fan-Dasein mit einer Bude voller Klamotten aus den Fifties und Sixties und Elvis-Starschnitten und sonstigen Devotionalien. Und er ist auch nicht die Jagd nach minimalen Drei-Akkorde-Arrangements mit maximaler Wirkung. „Dann wäre es ja Punk.“ Nein: Rock’n’Roll ist für ihn das Verschmelzen von Wildheit und Können.
Die Geschichten, die er zu diesem Thema erzählen kann, sind jedenfalls mannigfaltig: André Tolba studierte Jazzgitarre an der Amsterdamer Kunsthochschule. Er ist Mitbegründer der legendären Backbeats – jener Band also, mit der Popsänger Sasha seine Rock’n’Roll-Leidenschaft als Dick Brave auslebte und die es auf die Hauptbühne bei „Rock am Ring“ und in die Charts schaffte. Er startete mit dem Adriano-Batolba-Orchestra sein eigenes, großes Rockabilly-Projekt. Er ging auf Tournee mit Peter Kraus, der einen großen Anteil daran hat, dass den Menschen in Deutschland der Rock’n’Roll einst überhaupt erst vermittelt wurde. Derzeit ist André Tolba erstmals nach dem langen Lockdown wieder mit seinem Trio unterwegs. Und: Er produziert seit mehreren Jahren die Musik anderer Künstler*innen des Genres – unter anderem die von The Baseballs, Boppin‘ B sowie der Silverettes, deren neues Album mit dem Titel „Risky Business“ wurde gerade erst, am 24. September, veröffentlicht.
Wer André Tolba live erlebt, zuletzt etwa auf der Freilichtbühne Wattenscheid gemeinsam mit Bernie Weichinger am Schlagzeug und Falko Burkert am Kontrabass als Adriano-Batolba-Trio, der sieht, dass der Rock’n’Roll auch 67 Jahre nach dem Urknall – dem ersten Bill-Haley-Album „Rock With Bill Haley And His Comets“ 1954 – die Menschen nach wie vor berührt. Was für ihn, der nun quasi sein Leben lang schon in Arrangements, Hook-Lines, Gesangslinien, Solo-Läufen denkt, keine Überraschung ist. „Rock’n’Roll“, sagt André Tolba, „ist ja nicht rückwärtsgewandt.“ Er sei kein Retro-Ding. Rock’n’Roll entwickele sich immer weiter. „Er ist lebendig.“ Und bleibe eben dadurch: zeitlos."