Gut zwei Minuten braucht, wer die 240 Meter lange zentrale Halle der Reformuniversität Bielefeld ganz durchqueren möchte. Von außen ist der Ort, an dem sich alle Wege kreuzen, nicht sichtbar. Doch die Passage ist nicht einfach nur das betont funktionale architektonische Herzstück eines Komplexes, der von Ferne wie eine Festungsanlage aussieht, die aus dem Weltraum eines alten Science-Fiction-Films am Hang des Teutoburger Walds abgesetzt worden ist.

Die Halle ist als »Kommunikationsband« konzipiert und so ein Beton gewordenes Reformhochschulkonzept. Denn in Bielefeld sollte mittels Kommunikation und Interdisziplinarität die Universität, die am 17. November 1969 ihren Lehrbetrieb aufnahm, als Ort der Wissenschaften befestigt werden.

Die tradierte Idee der Universität geriet in den 1960er Jahren gehörig unter Druck. Die Studentenzahl stieg rasant, die Gesellschaft aber beklagte Akademikermangel. Die Angst vor einer »Bildungskatastrophe« ging um. Ab Mitte der 1960er Jahre kam es deshalb zu einer beispiellosen Welle von reformoffenen Neugründungen.

Konzipiert wurde die Reformuniversität Bielefeld von Helmut Schelsky, einem der profiliertesten Soziologen dieser Zeit. Er setzte darauf, Bielefeld als Haus der Wissenschaften zu bauen, um die Verlagerung der Forschung aus den Universitäten in die Unternehmen zu stoppen. Dafür verschob Schelsky den Humboldt’schen Bildungsauftrag der Universitäten in Richtung Erziehung zur Sachlichkeit. Mancher will darin die Begründung eines genuin Bielefelder Denkstils erkennen, gar ein »Syndrom«. Bestätigung sucht dieser Verdacht nicht selten in der (System)-Theorie des ersten und wohl berühmtesten Bielefelder Professors: Niklas Luhmann.

Doch wer dessen Theorie, die die Gesellschaft zu beschreiben sucht, statt sie verbessern zu wollen, für das Bielefeld genannte Ganze nimmt, muss schon ausblenden, welche Wissenschaftler von überragendem Rang dort lehrten und forschten: angefangen bei dem Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer über die Historiker Reinhart Koselleck und Hans-Ulrich Wehler, den Pädagogen Hartmut von Hentig bis hin zu Norbert Elias, der sechs Jahre lang in Bielefeld als Gast wirkte. Die Universität der Provinzstadt Bielefeld war in ihrer Hochzeit fraglos eine intellektuelle Metropole.

Schelskys Reformbegriff stand den Vorstellungen der studentischen Emanzipationsbewegung nicht selten entgegen. »Ich glaube, ich habe damals keiner einzigen Satzung der Mehrheit zugestimmt«, so sollte sich später Niklas Luhmann an die Jahre nach der Gründung erinnern, in denen Studenten und Assistenten ihre Reformvorschläge fakultätspolitisch umsetzen wollten.

Was aber bedeutete die »theoretische Universität« praktisch? Ein struktureller Numerus clausus sollte ein Professoren-Studentenverhältnis von 1:30 garantieren; die Ordinarien hätten jedes zweite Jahr der Forschung widmen können. Jedoch schon während der Planungsphase wurde die Zahl der aufzunehmenden Studenten von 3.600 auf 5.000 erhöht, 1979 lag sie bei 7.700 und heute bei über 17.000. Eine Zahl, die schlecht zu den Gründungsgedanken passen will.

Geblieben aber ist als Keimzelle der Universität das »Zentrum für interdisziplinäre Forschung«. Dessen Einrichtung auch ein letzter Versuch war, die nur noch formal vorhandene »Einheit der Wissenschaften« mit den Bedingungen der modernen Wissenschaftsentwicklung zu versöhnen.