BühneSchauspiel

Maxim Gorkis Drama „Kinder der Sonne“ in Bochum

bis 21.04.2024
Am Schauspielhaus Bochum widmet sich Mateja Koležnik Maxim Gorkis vorrevolutionärem Drama „Kinder der Sonne“, das sie in den 60ern verortet und stimmig verdichtet.

Vom „Mysterium des Einfachen“ spricht der Naturwissenschaftler Protassow, ein Menschenfreund, richtig gesagt: ein Menschheitsfreund. Doch da hat man das harsche Wort von Carl Schmitt im Ohr: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, was für jede Ideologie, ob rechts oder links, fromm oder profan, gilt. Das Schicksal des leidend Einzelnen ist immer konkret, allgemein betrachtet aber leicht verdunstet. Der rationale, vernunftbegabte Sonnenanbeter übersieht, dass sich Sehnsucht, Enttäuschung, Verzweiflung und die Krankheit Angst unter dem Mikroskop kaum entdecken lassen.

Protassow, den im Bochumer Schauspielhaus Guy Clemens als sympathisch geschäftigen Ignoranten zeigt, der flugs hinter der Tür des Laboratoriums verschwindet, wo es höllisch stinkt, obgleich da an der Gesundheitsformel fürs irdische Paradies experimentiert wird, ist Herr im Haus mit Ehefrau und Schwester und Bediensteten, Handwerkern, Zaungästen und Besuchern, um das und um die er sich herzlich wenig und höchstens obenhin kümmert.

Ein holzvertäfeltes Haus der Unruhe mit breiter Treppe in die obere Etage, verwinkelt, vollgestellt mit Tischen, Stühlen, Vitrinen, Schränken, Sofa, an denen beständig gerückt und umgeordnet wird: So hat Raimund Orfeo Voigt den Spielort auf die Bühne gestellt. Ein Taubenschlag für die am Hochauffliegen verhinderten und behinderten „Kinder der Sonne“. Mit ihnen meint Maxim Gorkis Seelenpurgatorium die privilegierte Klasse, Intellektuelle, Künstler, bequeme Bürger.

Der sozialistische Realismus, den er 1934 verkündete, hat in seinem Werk nicht  die stärksten Figuren geschaffen. Gorki, wie er sich nannte (übersetzt: der Bittere), war ein Fremder im neuen Staat Lenins und Stalins, der ihn dennoch selbst mit zu Grabe trug und an Moskaus Roter Mauer beisetzte. Ein Staatskünstler, der als romantischer Idealist für lange Jahre in Berlin, Paris, den USA und auf Capri lebte und in den politischen Rigorismus der Sowjetunion wenig hineinpasste.

Im Vergleich zu „Nachtasyl“ und „Sommergäste“ sind seine „Kinder der Sonne“ das unbekanntere Stück, entstanden 1905. Es orientiert sich am vorrevolutionären Cholera-Aufstand 1892 an der Wolga. Kassandrahaft orakelt Protassows Schwester Lisa, eine nervlich lädierte, rührend einsame, hoch gewachsen stolze Geistererscheinung (Anne Rietmeijer): „Der Hass unter den Millionen wächst … Eines Tages wird sich ihre Wut gegen euch kehren ... Weil ihr satt und gut gekleidet seid.“ Und meint damit auch den „Blutsonntag“, als der Zar in Sankt Petersburg ein Massaker unter den für bessere Lebensbedingungen demonstrierenden Erniedrigten und Beleidigten befahl.

Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik wendet das Wort vom „Mysterium des Einfachen“ auf ihre wie am Schnürchen laufende Inszenierung ab, die Auftritte choreografiert und wie Perlen reiht, die Chemie zwischen den Menschen untersucht und für die komplizierte Apparatur des Menschenwesens ihre Feinmechanik auf Körper und Seele gleichermaßen abstimmt.

Die Figuren könne sich noch bei kleinem Radius entfalten: etwa der vermögende Haus- und baldige Fabrikbesitzer Nasar (Konstantin Bühler), der seine zweifelhaften Eigenschaften in einen sublimen Charakter bettet. Oder die unglücklich reich verheiratete Melanija (Jele Brückner), die unsinnig ihr Herz an Protassow hängt, in ihrer Naivität aber nicht lächerlich und an den Witz verraten wird, sondern auf ihre pelzverbrämte, madamig frisierte Weise eine verlorene Seele ist. Einzig die Künstlerfigur Wagin (Victor Ijdens), der in Bochum nicht als Maler, sondern als Filmemacher auftritt und seine Handkamera auf die Leute hält und besonders auf Protassows Frau Jelena (Anna Blomeier) richtet, statt die Menschen anzuschauen und seine Augen für sie zu öffnen, bleibt als Luftikus etwas im Ungefähren hängen. Für eine kritische Reflexion über den Künstler in der Gesellschaft jedenfalls hat er keine Existenzberechtigung.

Dieses Ungefähre oder auch Unverbindliche wäre als einziges der in sich ganz geschlossenen, präzisen Aufführung anzulasten, die sich in Farben und Moden der 60er Jahre kostümiert und diese und sich selbst historisch fern verortet. Als die Masse Mensch vor Protassows Tür auftaucht, gehen im Haus die Lichter aus.

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