Küss mich, Muse!

Literatur
Die britische BBC-Journalistin Claudia Hammond hat ein großartiges Buch über „Die Kunst des Ausruhens“ geschrieben. Denn schon Aristoteles wusste: Es kommt auf die richtige Balance an. Zwischen „Vita activa“ und „Vita contemplativa“, dem aktiven und dem betrachtenden Leben. Das Wissen über den Wert des Ausruhens ist also eigentlich schon sehr sehr alt. Aber können wir es in Zeiten von Dauerstress, Burnout und pandemiebedingtem „Mütend“-Sein noch? Wie findet man echte Erholung?
Frau Hammond, warum fällt uns das Ausruhen so schwer, dass Sie es gleich zur Kunst erklären?
Claudia Hammond:
Die Menschen sind überfordert von all den Dingen, die auf ihren To-do-Listen stehen und in allem, was sie tun – egal ob Job, Kinder erziehen oder Gäste bewirten –müssen sie gut sein. Eigentlich haben wir gar nicht weniger Freizeit als etwa in den 1950er Jahren. Aber es fühlt sich nicht so an. Denn die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit ist viel durchlässiger geworden. Heute verschickt der Chef vielleicht noch um 23 Uhr Emails, wir denken, wir müssten ständig erreichbar sein und viele arbeiten von zu Hause aus. Ein Trend, den die Pandemie noch verstärkt hat.
Einfach mal nichts tun – geht das gar nicht mehr?
Claudia Hammond:
2014 hat die Universität von Virginia ein Experiment durchgeführt: Die Probanden mussten sich in einen Raum setzen und 15 Minuten lang nichts tun. Sie hatten kein Handy, kein Buch, keinen Stift und kein Papier. Was sie hatten, war eine Art elektronischer Fußring, mit dem sie sich elektrische Schläge verpassen konnten. Und tatsächlich gaben sich 71% der Männer und 25% der Frauen mindestens einen Elektroschock in den 15 Minuten des Nichtstuns, obwohl sie durch einen Test vorher wussten, dass es schmerzhaft sein würde. Es war also nicht nur Neugierde.
Lieber Schmerzen-Haben als Nichts-Tun – eines von vielen Experimenten, von denen Sie in Ihrem Buch erzählen. Sie lieben wissenschaftliche Studien?
Claudia Hammond:
Alles, was ich schreibe, basiert auf wissenschaftlichen Beweisen. Es gibt so viel faszinierende Forschung in der Psychologie, Neurowissenschaft und Medizin, und vieles davon können wir auf unser eigenes Leben problemlos anwenden, wenn wir nur davon wüssten.
Zum Beispiel die Ergebnisse des „Ruhe-Tests“, den Sie gemeinsam mit Forschern der Durham Universität entwickelt haben. 18.000 Menschen aus 135 Ländern nahmen daran teil. Unter anderem ging es um die favorisierten Ausruh-Techniken der Teilnehmer. Was hat Sie überrascht?
Claudia Hammond:
Was ich wirklich erstaunlich fand, war, dass Freunde und Familie treffen, also Geselligkeit, es nicht in die Top Ten der beliebtesten Ausruhmethoden geschafft hat. Denn das ist zwar eine angenehme, aber oft auch ermüdende Beschäftigung. Wichtig für das Ausruhen ist, dass es Tätigkeiten sind, die uns von unseren Sorgen ablenken und uns entschleunigen, bei denen wir nichts erreichen müssen, allein sein können und, ganz wichtig, bei denen wir uns nicht schuldig fühlen.
Also: Keine Schuldgefühle wenn wir die Top-Ten der Ausruhkünste praktizieren: Ganz oben auf Platz eins ist das Lesen gelandet. Dann: In der Natur-sein, Allein-sein, Musikhören, Nichts-Tun, Spazierengehen, Baden, Tagträumen, Fernsehen, Achtsamkeitsübungen.
Claudia Hammond:
Genau. Neurobiologen haben Mitte der 1990er Jahre durch Experimente im Magnetresonanztomografen herausgefunden, dass das Gehirn von Menschen, die gar nichts tun, viel aktiver ist, als wenn sie zum Beispiel eine Mathematikaufgabe lösen. Wenn das Gehirn sich selbst überlassen ist, gibt es plötzlich überall koordinierte Aktivität. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Tagträumen die Kreativität fördert.
Künstler sollten also besser faul sein?
Claudia Hammond (lacht):
Zumindest sollten sie sich, wenn sie nach einer Idee suchen, erlauben, einfach nur aus dem Fenster zu starren.
Und auf den Musenkuss zu warten...
Claudia Hammond:
Schon Mikropausen von nur zwei Minuten helfen, dass man sich anschließend deutlich besser konzentrieren kann. Und Menschen, die viele dieser Mikropausen an einem Arbeitstag hatten, fühlen sich abends besser. Aber wir denken immer, wenn wir eine Deadline schaffen wollen, müssten wir arbeiten, arbeiten, arbeiten und uns erst hinterher mit einer Pause belohnen. Falsch! Pausen sind absolut unterschätzt.
Eine „Ausruh-Kunst“, die so gar keinen guten Ruf hat, ist das Fernsehen. Sie sagen in Ihrem Buch den TV-Verächtern den Kampf an.
Claudia Hammond:
Beim Fernsehen denken immer alle an „Coachpotato“, Stumpfsinn, verlorene Lebenszeit. Und es stimmt: Menschen, die mehr als fünf Stunden fernsehen, haben ein höheres Risiko, depressiv zu werden. Der entscheidende Punkt beim Fernsehen ist, Sendungen zu schauen, an die wir uns erinnern können. Denn wir messen vergangene Lebenszeit daran, wie viele Erinnerungen wir haben. Wer viel fernsieht, aber nichts erinnert, der hat das Gefühl, das Leben rausche an ihm vorbei. Aber ich glaube, Fernsehen ist einfach die moderne Form von dem, was die Menschen immer schon getan haben: Gemeinsam ums Lagerfeuer sitzen und sich Geschichten erzählen - nur erzählen hier die besten Schauspieler und besten Regisseure ihre wunderbaren Geschichten. Gemeinsam fernzusehen ist extrem entspannend, denn wir können uns unterhalten, müssen aber nicht. Wir wissen heute: 20% der Zeit vor dem Fernseher reden die Menschen.
Wer hätte gedacht, dass Fernsehen eigentlich total sozial ist! Sie räumen mit vielen Irrtümern auf, am Ende auch mit unserem selbstmitleidigen Irrglauben, wir hätten im Dauerstress keine Freizeit?
Claudia Hammond:
Wenn man Menschen nach ihren Arbeitszeiten pro Woche fragt, neigen sie dazu, diese zu überschätzen. Denn wenn man sie bittet, exakt Tagebuch zu führen, kommt raus, dass sie am Dienstag vielleicht doch früher Schluss gemacht haben, um noch zum Zahnarzt zu gehen, und hier und da zehn Minuten lang einfach nur geplaudert haben.
Tatsächlich haben wir, schreiben Sie, mehr als fünf Stunden Freizeit, wenn man alle Pausen eines Tages zusammenzählt.
Claudia Hammond:
Was wir wirklich tun müssen, ist: Überhaupt erst mal erkennen, was eine Auszeit ist und dann bewusst Wahrnehmen, dass wir eine Pause machen. Was auch sehr hilfreich ist: Reframing. Also verschwendete Zeit zur Pause deklarieren. Wenn wir irgendwo in einer Warteschlange stehen - nicht darüber ärgern, sondern sich klar machen, dass wir jetzt zehn Minuten Zeit haben, einfach nur zu schauen und die Welt an uns vorüber ziehen zu lassen.
Wie brav folgen Sie Ihren eigenen Lehren?
Claudia Hammond (lacht):
Meine Freunde fanden es seltsam, dass ausgerechnet ich ein Buch über das Ausruhen schreibe... Aber seit meinen Forschungen fühle ich mich immerhin nicht mehr schuldig, wenn ich nachmittags für 15 Minuten in meinen Garten gehe und dort herumwerkele. Ich weiß dann: Ich tue das für meine mentale Gesundheit.

Claudia Hammond (Jahrgang 1971) ist Psychologin und preisgekrönte Bestseller-Autorin in Großbritannien. In ihren Publikationen will sie zeigen, wie wir die Erkenntnisse aus der psychologischen und medizinischen Forschung für unser Alltagsleben nutzen können. So beschäftigte sie sich in früheren Büchern mit der Wissenschaft der Gefühle, der Psychologie des Geldes oder unserem Zeitgefühl. Sie unterrichtet an der Psychologischen Fakultät der Boston University in London. Für das englische BBC Radio arbeitet sie als Moderatorin zu psychologischen Themen und präsentierte 2020 dort „Inside Health - the Virus“.

Claudia Hammond: Die Kunst des Ausruhens. Wie man echte Erholung findet. Dumont Verlag 2021. 320 Seiten, 22,00 Euro

Interview
Nicole Strecker

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