1985 - Günter Wallraff ist „Ganz unten“

GeschichteLiteratur
Als der Kölner Schriftsteller und Journalist Günter Wallraff im Oktober 1985 sein neues Buch „Ganz unten“ vorstellt, ist er längst kein Unbekannter mehr.

Unbekannt ist er nur, wenn er sich verkleidet, um auf Undercover-Recherche zu gehen: als Industriearbeiter, falscher Ministerialdirigent, Bote beim Gerling-Konzern, „Bild“-Redakteur. Ansonsten ist Wallraff, 1942 in Burscheid bei Köln geboren, bekannt wie kaum einer sonst in Deutschland. Berühmt als mutiger Aufklärer sozialer Missstände bei Gewerkschaftern und Linken; berüchtigt als lästige Laus im Pelz bei Arbeitgeberverbänden, Konservativen und den Springer-Zeitungen. Und nun „Ganz unten“: Wallraffs Reportage über sein zweijähriges Leben und Arbeiten als türkischer Gastarbeiter Ali. Mit dunklen Kontaktlinsen, schwarz gefärbten Haaren, Schnurrbart und gebrochenem Deutsch zum „Kanaken“ kostümiert, erlebt Wallraff, dass Arbeit im sozialwirtschaftlichen Deutschland der 1980er Jahre Sklavenarbeit sein kann – sofern man Türke ist. Und damit „der letzte Dreck“.

Ali schuftet in einem Reitstall, bei McDonald’s, als Kanalreiniger, als Bauhelfer. Wo deutsche Kollegen Schutzkleidung bekommen, geht er als Türke leer aus. Wallraff schreibt: „Ein Dachstuhl brennt. Mehrere Feuerwehrwagen rücken an, auch Polizei. Ali wird mit anderen Kollegen auf das noch schwelende Dach geschickt um aufzuräumen. Die Sohlen der Turnschuhe fangen dabei an zu schmoren, ein paar Mal krachen angebrannte Balken unter ihm. Eine Gruppe von Polizeibeamten und Feuerwehrleuten steht neben uns und sieht zu, wie wir die schwelenden Sachen in den Bauhof runter werfen. Wir turnen vor ihnen rum, ohne Schutzkleidung. Alles Illegale. Ich kann mir vorstellen, sie wissen oder ahnen es zumindest. Aber sie sagen nichts. Auch sie profitieren von uns, wir machen für sie die gefährliche Dreckarbeit.“

Ali Wallraff lässt sich auf einem CSU-Parteitag blicken und wird rausgeschmissen; der angebliche Moslem versucht, sich als Christ taufen zu lassen, und wird von Priestern abgewiesen. Seine schlimmsten Erfahrungen aber macht Wallraff als türkischer Lohnsklave einer Leiharbeitsfirma, die ihn bei Thyssen bis zu 72 Stunden am Stück schuften lässt und auch noch den Großteil seines Lohnes einbehält. Am Ende ist Wallraffs Gesundheit stark gefährdet, sein Buch aber schlägt ein wie eine Bombe: Niemand hatte geglaubt, dass in der Bundesrepublik ein solches Schattenreich aus Ausbeutung, Menschenverachtung und Diskriminierung existiert.

Als Folge ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Thyssen und andere Firmen; die Öffentlichkeit ist empört, „Ganz unten“ erzielt eine deutsche Auflage von bislang vier Millionen Exemplaren, von 30 Millionen weltweit. Wie fast nach jedem seiner Recherche-Berichte handelt sich Wallraff auch diesmal juristische Klagen, darunter von Thyssen und McDonald’s, ein; wie immer gewinnt er sie. Im Jahr des Erscheinens von „Ganz unten“, 1985, bekommt Günter Wallraff in Frankreich den „Literaturpreis der Menschenrechte“ verliehen. Und bis heute geht Wallraff ungebrochen undercover auf Recherche.

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